Der Dokfilm zeigt Michel Berandi, der in Paris aufwuchs, als Jugendlicher rebellierte und den Vorstellungen seiner Eltern trotzte, was ihn schliesslich an den Rand des Abgrunds trieb. Ganz anders erging es Li Pujian, der in einer chinesischen Provinzstadt zur Welt kam, in armen Verhältnissen aufwuchs, dessen Leben sich aber urplötzlich durch einen beispiellosen Wirtschaftsboom von Grund auf ändert. Oder Melissa Hensy, die in eine disziplinierte und abgeschottete Welt einer US-amerikanischen Soldatenfamilie hineingeboren wurde, als Jugendliche nach Panama davonlief, was sich schliesslich als fataler Fehler entpuppte. Und dann ist da noch Zukiswa Ramncwana in Südafrika, die unter einem Regime gross geworden ist, das ihr die grundlegendsten Rechte verwehrte, worauf eine gewaltige Modernisierung folgte, die alles veränderte.
Die Biografien der Protagonisten werden ergänzt von bisher kaum gesehen Archivaufnahmen. Während den 139 Minuten lernt man ganz nebenbei auch noch etwas über Geschichte. Grosse historische Ereignisse werden dokumentiert und mit brillant formulierten Text untermalt. Es ergibt sich ein gut abgerundetes Gewebe, das durch die Geschichte des Filmemachers selbst zusammengehalten wird. Lesen lassen hat Matter seinen Teil von einem Schauspieler: «Einerseits, weil ich einfach ein miserabler Vorleser bin, andererseits, damit man spürt, dass es nicht um meine Person an sich geht, sondern um die exemplarische Geschichte eines Menschen, der in den 60ern in der Schweiz aufgewachsen ist.»
Nachdem man über zwei Stunden den Erzählungen der Protagonisten gelauscht, sich in sie hineingefühlt hat, bleibt am Ende schliesslich das Verlangen zurück, noch mehr über deren Leben zu erfahren.
Die Welt anders wahrnehmen
Die Existenzen dieser verschiedenen Personen könnten unterschiedlicher kaum sein. Und doch gelingt es Matter, das Gerüst zusammenzuhalten. Alles dreht sich um die im Hintergrund brennende Frage: Wie wird ein Mensch zu dem, der er ist? Ist die Entwicklung dem Zufall, Schicksal oder Zeitgeist geschuldet? «Der Film zeigt sicherlich, dass man durch das Milieu geprägt wird, indem man aufwächst. Das bedeutet aber nicht, dass es einem unbedingt besser geht, wenn man in einem reichen Land aufwächst. Diese Komplexität und wie Zufall, Schicksal, sowie soziale Bedingungen auf uns einwirken – das wollte ich mit meinem Werk veranschaulichen.»
Matter will keine klare Botschaft mit «Parallel Lives» vermitteln, aber auf jeden Fall die Zuschauer dazu animieren, über ihr eigenes Leben oder das ihrer Eltern nachzudenken. «Dass sie genau hinzuschauen und sich Gedanken darüber machen, wie im Grunde alles zusammenhängt und funktioniert. Dann nimmt man auch die Welt anders wahr», betont der Filmemacher.
Verspätete Premiere
Die Idee zum Film hatte Matter bereits 2014. Bis der Film endlich im Kino anläuft, war es ein langer Weg. «Der Schnitt war definitiv die längste Phase. Wir hatten viel Material zu sichten, auch die Suche nach dem Archivmaterial forderte uns. Und schliesslich war das Drehen auf vier verschiedenen Kontinenten eine grosse Herausforderung», sagt der Regisseur.
Verschont wurde der Filmemacher glücklicherweise von der Corona-Pandemie. «Zwar mussten wir die Premiere verschieben, aber wir konnten jederzeit arbeiten, da wir uns während des Lockdowns im Schnitt oder in der Entwicklung befanden», so Matter. Gelehrt hat ihn die spezielle Zeit aber doch einiges, wie er auch beim Schlusswort im Film antönt. Im Gespräch meint er: «Die Pandemie hat uns gezeigt, wie fragil unser Leben ist. Und wie schnell und vollgestopft es vor dieser aussergewöhnlichen Zeit war. Plötzlich spürte man auch wieder den Raum und konnte ihn vermehrt wahrnehmen, da man nicht einfach mehr Freunde in den USA besuchen konnte.»
Anlaufen hätte «Parallel Lives» bereits vergangenes Jahr sollen, aber Corona kam dazwischen. Nun feiert der Dokfilm am 10. Februar 2022 Premiere. Bisher wurde er bereits mit dem Basler Filmpreis 2021, sowie dem Publikumspreis des BE MOVIE 2021 ausgezeichnet. Weiter Informationen zum Film findest du hier.