Schicksal, Zufall, Zeitgeist – was prägt unser Leben?

«Parallel Lives»: Die Geschichte von 5 fernen Geschwistern

In «Parallel Lives» spürt der Basler Filmemacher Frank Matter vier Menschen auf, deren Leben unterschiedlicher nicht sein könnte. Doch sie alle verbindet etwas: Sie sind am 8. Juni 1964 geboren. Genau wie Matter selbst.

Film «Parallel Lives» von Frank Matter

Ein Dokfilm, der über zwei Stunden lang geworden ist. Normalerweise schaltet mein Hirn da irgendwann ab. Nicht aber bei Frank Matters (57) «Parallel Lives» (2021), in welchem er fünf unterschiedliche Biografien porträtiert, inklusive seiner eigenen. Der Basler Filmemacher hat vier Menschen aufgespürt, die wie er selbst am 8. Juni 1964 geboren wurden. Im Grund eine simple Idee für einen Film, die der Regisseur spannend verpackt und mitreissend gestaltet hat. Er lässt die Protagonisten selbst zu Wort kommen. Denn sie alle haben eine eindrückliche Geschichte zu erzählen, von den Vorkommnissen in ihren Leben und den verschiedenen Umfelder, die sie geprägt und geformt haben.

Den Ausschlag für die Idee zum Film gab ein Klassentreffen, wie Matter berichtet. «Als ich 50 wurde – das war im Jahr 2014 –, habe ich meine alten Schulkameraden aus der Primarschule getroffen, die ich 20 oder 30 Jahre nicht mehr gesehen hatte, weil ich lange im Ausland lebte.» Viele hätten sich in eine Richtung entwickelt, wie der gebürtige Basler sich das schon als Kind vorgestellt hatte.

Von anderen dagegen war er überrascht, welchen Lebensweg sie eingeschlagen hatten. «Und das hat mich sehr beschäftigt», gesteht Matter. Hinzu spielte eine prägende Erinnerung: «Der Pfarrer unserer Sonntagsschule pflegte zu sagen: ‹Ihr könnte euch glücklich schätzen, dass ihr in der reichen Schweiz geboren wurdet.›» Aus der Fusion dieser beiden Gedankengängen war schliesslich die Idee geboren: «Ich wollte wissen, was die Leben von Menschen beeinflusst hat, die zur gleichen Zeit wie ich auf die Welt kamen, aber die in anderen Ländern und unter anderen Umständen aufwuchsen.»

Über Facebook machte sich Matter schliesslich auf die Suche nach seinen fernen Geschwistern, wie er erzählt. «Heute ist eine solche Suche dank des Internets natürlich viel einfacher, als vor 20 oder 30 Jahren», sagt der Regisseur. Die Suche schränkte er ein wenig ein, indem er sich auf Länder fokussierte, die in seinem eigenen Leben eine Rolle gespielt hatten. So etwa die USA, wo er 13 Jahre lang gewohnt hatte. «Oder aber Paris, die erste Grossstadt, die mich als Jugendlicher fesselte, Südafrika, das ich zwar nie besucht hatte, aber ein Land, das in meiner Politisierung eine grosse Rolle spielte, und dann ist da noch China, wo ich während der 1980er-Jahre oft war.»

Gefunden hat er viele Geburtstagsgeschwister, entschieden hat sich Matter schliesslich aber für Michel Berandi, Li Pujian, Melissa Hensy und Zukiswa Ramncwana. «Die Entscheidung fiel sehr intuitiv, da mich ihre Geschichten auch persönlich berührten. Bei Michel, Li, Melissa und Zukiswa spürte ich eine gewisse Nähe.»

Der Dokfilm zeigt Michel Berandi, der in Paris aufwuchs, als Jugendlicher rebellierte und den Vorstellungen seiner Eltern trotzte, was ihn schliesslich an den Rand des Abgrunds trieb. Ganz anders erging es Li Pujian, der in einer chinesischen Provinzstadt zur Welt kam, in armen Verhältnissen aufwuchs, dessen Leben sich aber urplötzlich durch einen beispiellosen Wirtschaftsboom von Grund auf ändert. Oder Melissa Hensy, die in eine disziplinierte und abgeschottete Welt einer US-amerikanischen Soldatenfamilie hineingeboren wurde, als Jugendliche nach Panama davonlief, was sich schliesslich als fataler Fehler entpuppte. Und dann ist da noch Zukiswa Ramncwana in Südafrika, die unter einem Regime gross geworden ist, das ihr die grundlegendsten Rechte verwehrte, worauf eine gewaltige Modernisierung folgte, die alles veränderte.

Die Biografien der Protagonisten werden ergänzt von bisher kaum gesehen Archivaufnahmen. Während den 139 Minuten lernt man ganz nebenbei auch noch etwas über Geschichte. Grosse historische Ereignisse werden dokumentiert und mit brillant formulierten Text untermalt. Es ergibt sich ein gut abgerundetes Gewebe, das durch die Geschichte des Filmemachers selbst zusammengehalten wird. Lesen lassen hat Matter seinen Teil von einem Schauspieler: «Einerseits, weil ich einfach ein miserabler Vorleser bin, andererseits, damit man spürt, dass es nicht um meine Person an sich geht, sondern um die exemplarische Geschichte eines Menschen, der in den 60ern in der Schweiz aufgewachsen ist.»

Nachdem man über zwei Stunden den Erzählungen der Protagonisten gelauscht, sich in sie hineingefühlt hat, bleibt am Ende schliesslich das Verlangen zurück, noch mehr über deren Leben zu erfahren.

Die Existenzen dieser verschiedenen Personen könnten unterschiedlicher kaum sein. Und doch gelingt es Matter, das Gerüst zusammenzuhalten. Alles dreht sich um die im Hintergrund brennende Frage: Wie wird ein Mensch zu dem, der er ist? Ist die Entwicklung dem Zufall, Schicksal oder Zeitgeist geschuldet? «Der Film zeigt sicherlich, dass man durch das Milieu geprägt wird, indem man aufwächst. Das bedeutet aber nicht, dass es einem unbedingt besser geht, wenn man in einem reichen Land aufwächst. Diese Komplexität und wie Zufall, Schicksal, sowie soziale Bedingungen auf uns einwirken – das wollte ich mit meinem Werk veranschaulichen.»

Matter will keine klare Botschaft mit «Parallel Lives» vermitteln, aber auf jeden Fall die Zuschauer dazu animieren, über ihr eigenes Leben oder das ihrer Eltern nachzudenken. «Dass sie genau hinzuschauen und sich Gedanken darüber machen, wie im Grunde alles zusammenhängt und funktioniert. Dann nimmt man auch die Welt anders wahr», betont der Filmemacher.

Die Idee zum Film hatte Matter bereits 2014. Bis der Film endlich im Kino anläuft, war es ein langer Weg. «Der Schnitt war definitiv die längste Phase. Wir hatten viel Material zu sichten, auch die Suche nach dem Archivmaterial forderte uns. Und schliesslich war das Drehen auf vier verschiedenen Kontinenten eine grosse Herausforderung», sagt der Regisseur.

Verschont wurde der Filmemacher glücklicherweise von der Corona-Pandemie. «Zwar mussten wir die Premiere verschieben, aber wir konnten jederzeit arbeiten, da wir uns während des Lockdowns im Schnitt oder in der Entwicklung befanden», so Matter. Gelehrt hat ihn die spezielle Zeit aber doch einiges, wie er auch beim Schlusswort im Film antönt. Im Gespräch meint er: «Die Pandemie hat uns gezeigt, wie fragil unser Leben ist. Und wie schnell und vollgestopft es vor dieser aussergewöhnlichen Zeit war. Plötzlich spürte man auch wieder den Raum und konnte ihn vermehrt wahrnehmen, da man nicht einfach mehr Freunde in den USA besuchen konnte.»

Anlaufen hätte «Parallel Lives» bereits vergangenes Jahr sollen, aber Corona kam dazwischen. Nun feiert der Dokfilm am 10. Februar 2022 Premiere. Bisher wurde er bereits mit dem Basler Filmpreis 2021, sowie dem Publikumspreis des BE MOVIE 2021 ausgezeichnet. Weiter Informationen zum Film findest du hier.

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