Und es war Sommer

Der Schweizer Nationalgoalie über Heldentaten und die Macht der Gegenwart.

Charlotte Fischli
25. Aug. 2021
Yann Sommer, seit 2018 Markenbotschafter von IWC, trägt die neue Big Pilot’s Watch Perpetual Calendar.

Gegensätzlicher hätten sie nicht sein können, die beiden Sommer des Jahres 2021. Der eine: die pure Enttäuschung. Kalt. Nass. Einer, vor dem wir flüchten wollten. Der andere: Sommer, Yann. Goalie der Schweizer Nationalmannschaft. Einer, von dem wir nicht genug kriegen konnten, der uns alles Leid vergessen liess. Yann Sommer (32) machte uns stolz. Euphorisch. So sehr, dass wir uns beinahe ein Fussballtrikot der Schweizer Nati bestellt hätten, Unfarbe Rot hin oder her. Wie er verteidigte! Wie er sprang! Wie er hielt! Wie er immer die richtigen Worte wusste – bis er vor Glück keine mehr fand. Und wir mit ebenso glasigen Augen vor dem Bildschirm hockten und dachten: Was für ein Mann, dieser Yann.

Bolero: Erstmals Gratulation zu einer hervorragenden EM. Haben Sie all die Memes, die kurz nach dem Turnier über Sie im Internet kursierten, eigentlich gesehen? Da werden Sie etwa als der «einzige wahre Sommer» bezeichnet oder mit einer Backsteinwand gleichgestellt.

Yann Sommer: Ich habe selber nicht nach Memes gesucht, aber viele zugeschickt bekommen. Es gab lustige darunter, aber wenn es kein Ende nimmt, kann man sie irgendwann nicht mehr sehen … (lacht).

An welchen Moment des Turniers werden Sie sich am längsten erinnern?

Es gibt viele. Aber für mich war besonders speziell, als wir im Achtelfinal gegen Frankreich drei zu eins im Rückstand lagen. Klar, keine schöne Ausgangslage, aber genau an diesem Punkt haben wir als Team extrem viel Charakterstärke bewiesen, viel Moral. Wir schauten einander an und sagten: «Wir gehen weiter, wir versuchen alles.» Unsere Aufholjagd zum drei zu drei sowie alles, was folgte, war schlicht unglaublich. Dieser Moment hat sich uns allen eingeprägt – was alles möglich ist, wenn man einfach weitermacht.

Das Elfmeterschiessen nach der Verlängerung gegen Frankreich war als Zuschauer vor Spannung kaum zu ertragen. Freut man sich als Goalie eigentlich, wenn klar ist: Jetzt passierts?

Schwierig, zu sagen. Da wir in vergangenen Jahren stets früher ausgeschieden sind, war der Druck, bei dieser EM in den Viertelfinal zu kommen, riesig. Nachdem wir den grossen Rückstand aufgeholt hatten, wusste ich: Das müssen wir jetzt schaffen, alles andere wäre eine Katastrophe. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Freude? Eher Anspannung.

Wie trainieren Sie derartige Drucksituationen?

Ich schaue mir mit meinem Torwarttrainier vor dem jeweiligen Spiel die Schützen genauer an, und wir überlegen uns die Vorgehensweise. Seit über zehn Jahren arbeite ich auch mit einem Mentaltrainer, um diverse Situationen, in denen ich unter Druck stehe, zu trainieren: Wie fühlt es sich an, an einem solchen Turnier dabei zu sein? Wie sind diese K.-o.-Spiele, was kommt in solchen Momenten auf mich zu, und wie gehe ich damit um? Worauf lege ich Wert? Körperspannung, Ausstrahlung und so weiter. All das setze ich in Drucksituationen ein.

Die Schweizer Nationalmannschaft wird bei Niederlagen so stark kritisiert, wie sie bei Erfolgen gelobt wird. Konsumieren Sie während Turnieren Medien?

Teils, teils. Wir haben immer auch freie Tage, da schaue ich schon mal eine Zeitung an und lese, was Journalisten und das Volk so meinen. Ich finde es wichtig, darüber zu reflektieren, was passiert. Unsere Mannschaft hat in den letzten Jahren viel Kritik abbekommen – teilweise zu Recht, da muss ich ehrlich sein. Es ist aber immer schön, das Blatt wieder zu wenden. Am Anfang dieser EM war die Stimmung bescheiden, danach ist sie explodiert.

Wie wichtig sind Lob und Kritik für den Geist? Schliesslich muss man nirgends sonst Niederlagen so schnell verarbeiten wie im Sport.

Auch an diesen Fragen arbeite ich mit meinem Mentalcoach: Wie geht man mit Kritik, aber auch mit Lob um? Bei Kritik zählt, ob sie konstruktiv ist. Falls ja, nehme ich sie offen an und überlege mir, was ich hätte besser machen können. Wichtig ist aber auch, irgendwann einen Punkt hinter die Sache zu machen und nach vorne zu schauen.

Finden Sie, die Schweizer Presse sei streng mit Ihnen?

In einem normalen Mass. Boulevard ist Boulevard – wenn man den Journalisten etwas gibt, machen sie etwas daraus. Als Spieler kennen wir das und wissen auch, wie man damit spielen kann. Situationen, in denen man unüberlegt handelt, gibt es natürlich trotzdem.

Sie gelten auch in der Bundesliga und Ihrem Klub Borussia Mönchengladbach als einer der beliebtesten Spieler. Man schätzt Ihre Bodenständigkeit, die gehaltvollen Aussagen, Ihre sympathische Art und Eleganz. Eigentlich sind Sie der Roger Federer des Fussballs.

Ganz ehrlich, ich bin einfach so, wie ich bin. Ich habe schon am Anfang meiner Karriere entschieden, dass ich mich nicht verstellen möchte. Natürlich ist man in der Öffentlichkeit anders als privat, aber ich versuche immer authentisch zu sein, offen mit Menschen umzugehen und auch zu sagen, wenn mir Dinge nicht passen. Dieses positive Image, das mich verfolgt – oder eher begleitet –, freut mich aber natürlich, weil es tatsächlich meiner Persönlichkeit entspricht.

In einer Mannschaft treffen viele Mentalitäten und Egos aufeinander. Wie finden Sie in einem Team Ihren Platz?

Ein spannendes Thema. Besonders zu Beginn der Saison stossen häufig neue Spieler zu einem Team, die alle ihre eigenen Charaktere mitbringen. Ich finde diese Phase interessant, neu zusammenzuwachsen und den eigenen Platz zu finden. Man lernt mit den Jahren auch, wie man als erfahrener Spieler die Jüngeren führen kann, wie man zu einer eingeschweissten Trup­pe wird. Aber auch die eigenen, individuellen Aufgaben wahrzunehmen, die wichtig sind fürs Team.

Wie und wann haben Sie realisiert, dass die mentale Stärke in Ihrem Job den Unterschied machen kann?

Schon sehr früh. Psychologie ist ein grosses Thema im Fussball, besonders bei Goalies: Du kannst keinen Fehler machen, ohne direkt dafür bestraft zu werden. Das Tor zu hüten, ist eine spannende Aufgabe, aber auch eine wahnsinnig intensive. Ich habe mich schon früh damit beschäftigt, wie ich mich und meinen Kopf stärken kann. Um bereit zu sein für das, was kommt.

Sie wirken auch abseits des Spielfelds diszipliniert und ehrgeizig: Sie kochen, spielen Gitarre, singen … Gönnen Sie sich denn mal eine Pause? Schauen Sie Netflix?

Natürlich! Das ist auch ganz wichtig. Dinge wie Lesen oder mal fernzusehen, holen mich runter, lassen mich den Druck und die Anspannung vergessen. Sie zeigen mir, dass ich nicht immer den Ehrgeiz haben muss, in allem extrem gut zu sein, sondern einfach mal chillen darf.

Man hat das Gefühl, Sie können ausserordentlich gut im Moment leben. Können Sie uns einen Tipp geben, wie das gelingt?

Ich versuche, mich jeden Tag ein paar Minuten nur mit mir selbst zu beschäftigen, ohne dass ich gross denken oder planen muss. Ich und ich, das tut mir sehr gut. Wir leben ja eigentlich alle mit Autopilot, sind ständig im Stress, machen vieles ohne Bewusstsein. Das ist der Punkt: Man kann den Moment viel besser geniessen, wenn man ihn bewusst lebt.

Wo finden Sie den Ausgleich zum Sport?

Ich hatte schon immer sehr viele Interessen ausserhalb des Fussballs. Fussball ist cool, er ist mein Job, aber viele meiner Freunde machen etwas ganz anderes. So komme ich mit diversen Themen in Kontakt. Ich habe mir gesagt: Probier alles aus, was dir Spass macht, was dich interessiert. Seither probiere ich mich querbeet durch etliche Hobbys.

Vielleicht sind Sie deshalb ein gefragter Markenbotschafter. Wenn Sie am Grill stehen oder bei IWC Schaffhausen ein Uhrwerk zusammenbauen, wirkt das durchaus authentisch.

Mir machen solche Projekte grossen Spass. Natürlich schaue ich bei Partnerschaften primär darauf, ob ich mich mit der Marke identifizieren kann. Das Team und der Inhalt einer Zusammenarbeit spielen aber auch eine Rolle. Sind es spannende Projekte, die wir gemeinsam umsetzen? Habe ich Mitspracherecht? Ich finde diese Erweiterung des eigenen Horizonts sehr beflügelnd.

Tom Brady und Lewis Hamilton sind Ihre «Teamkollegen» bei IWC. Sie alle sind Markenbotschafter. Würde es nach Ihnen gehen, wie würden Sie einen Tag zu dritt verbringen?

Boah, ich glaube, ich würde mit den beiden einfach an einen Tisch sitzen und über unsere Wege, unsere Karrieren sprechen wollen. Ich würde gern wissen, was sie nebenbei machen, aber auch, wie sie trainieren, an sich arbeiten, worauf sie Wert legen, wie sie sich ernähren und so weiter. Es gibt unzählige Themen, die mich interessieren würden.

Wir haben jetzt mehr an Kartfahren oder Bungee-Jumping gedacht … Sie würden also lieber ein gediegenes Gespräch mit den beiden führen.

Aktivitäten haben wir in unserem Alltag alle genug. Ich finde es weit spannender, mit anderen Sportlern über ihr Leben und ihre Werte zu sprechen.

Im Sport lernt man wahnsinnig viel übers Leben: Erfolge und Niederlagen verarbeiten, mit Mitmenschen umgehen, mit Druck auf ein Ziel hinarbeiten. Welche Eigenschaften liegen Ihnen besonders am Herzen? Welche Werte möchten Sie Ihren Töchtern vermitteln?

Freude zu haben an dem, was man macht, und sich mit voller Power für seine Leidenschaften einzusetzen. Aber natürlich auch harte Arbeit reinzustecken und sich nicht auf das eigene Talent zu verlassen. Man muss akribisch an sich arbeiten, den Körper fordern und darf sich nie zufriedengeben. Denn das bedeutet Stillstand.