Kommen Sie aus einem kreativen Haushalt?
Mein Vater entwarf mit grosser Passion funktionale Rucksäcke. Sie waren zwar nicht modisch, aber ich schaute ihm immer gern beim Skizzieren zu. Er ist ein Träumer wie ich. Überhaupt liessen meine Eltern dafür immer viel Platz. Gleichzeitig machten sie mir aber immer bewusst, wie die Realität eines Modedesigners aussieht und dass man sein ganzes Leben dafür hergibt. Ich fokussierte mich deshalb in der Schule zunächst auch auf die Wissenschaften, um Disziplin zu lernen und etwas zu haben, worauf ich zurückkommen konnte. Kreative Kurse wie Zeichnen machte ich nur nebenbei. Die Royal Academy of Fine Arts war aber immer mein erklärtes Ziel.
Sie wurden an der Modeschule, die als eine der wichtigsten Talentschmieden weltweit gilt und legendäre Designer wie Martin Margiela, Raf Simons oder Dries Van Noten zu ihren Abgängern zählt, im ersten Anlauf angenommen. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Ich war gerade mal siebzehn Jahre alt und selbst schockiert, dass ich es nach nur einem Jahr Vorbereitung überhaupt geschafft hatte. Das Gute ist, dass man im jungen Alter extrem schnell lernt. Ich bekam sinnbildlich rechts und links Ohrfeigen ab, wuchs dadurch aber im Rekordtempo. Die Schule fühlt, wo du kreativ stehst, und pusht dich dann in die bestmögliche Richtung. Dadurch findet man sich extrem schnell selbst. Aber klar, es ist ein kompetitives, anspruchsvolles Umfeld – von 150 Schülern, die pro Jahr aufgenommen werden, schliessen am Ende etwa 10 ab.
Was passiert mit dem Rest?
Viele brechen von selbst ab, weil der Unterricht nicht ihr Ding ist oder sie Kurse wiederholen müssten und sich dann umorientieren. Manchen ist der schulische Ansatz auch zu kreativ und zu wenig technisch.
Die belgische Mode ist für ihren konzeptionellen Anspruch und ihr Storytelling bekannt. Der Designer Glenn Martens sagt, er sei nicht an Schönheit interessiert, ein Kleidungsstück müsse einen Daseinsgrund haben. Stimmen Sie zu?
Auf jeden Fall. Für mich muss auch jede Kollektion eine Geschichte enthalten, wobei die Marke die Stimme ist, die sie erzählt. Ich wüsste gar nicht, wie ich ohne sie kreieren würde. Sie ist wie der Herzschlag. Spüre ich ihn bei der Kreation eines Stückes nicht, weiss ich, dass etwas nicht stimmt.
Wie würden Sie Ihre kreative Stimme im Kern beschreiben?
Ich beschäftige mich oft mit sozialen Themen, Menschen und ihren Verhaltensweisen in bestimmten Situationen. So beginnt jede neue Kollektion auch eher mit einem Gespräch als mit Bildern. Für die Herbst/Winter-Kollektion beschäftigte ich mich zum Beispiel mit Judith Prices’ Buch «Executive Style. Achieving Success through Good Taste and Design» von 1980, das ich auf einem Flohmarkt in L.A. fand und das suggeriert, dass ein imposantes Arbeitsumfeld einen zu einer erfolgreichen Person macht. Ich fragte mich: Sind wir erfolgreich, nur weil wir den Namen eines Designerstuhls kennen? Das ist doch so absurd wie unterhaltsam. Über solche Dinge kann ich ewig nachdenken – und lachen! Diese Gefühle und Ideen versuche ich dann in Kleidung zu übersetzen.
Sie kreieren in Ihren Kollektionen Archetypen, die von Kontrasten leben: bürgerliche Pariserinnen, die in der Freizeit in Los Angeles surfen, oder Businessfrauen, die exzessiv feiern. Existieren solche Polaritäten auch in Ihnen?
Absolut. Ich finde es grossartig, verschiedene Identitäten durch Kleidung auszuleben. Mit einem Anzug, einem eleganten Kleid oder Jogginghose und Pulli kreiere ich andere Charaktere und Emotionen. Im Kern bin ich aber immer gleich.
Wie sehr darf man stilistisch variieren, ohne dass die Marken-DNA leidet?
Ich sehe diese Kontraste – die Spannung zwischen dem Schönen und dem Abstossenden – viel eher als roten Faden, der sich überall durchzieht. Die Julie-Kegels-Frau ist ein Chamäleon – aber ein stures, rebellisches! Ich brauche dieses Spiel, damit ich als Designerin zufrieden bin.
Sie sagten einmal, dass Sie eine Luxusmarke kreieren möchten, die auch mal laut sein darf. Wen haben Sie im Kopf, wenn Sie entwerfen?
Eine Frau mit Klasse. Sie ist elegant und lustig, nimmt die Dinge nicht allzu ernst und immer mit einem Augenzwinkern. Ihre Identität hat viele Facetten, innerhalb derer sie aber nicht immer perfekt sein muss. Manchmal ist sie stark, manchmal fragil. Das heisst es doch, eine Frau zu sein.
Entspricht das dem Frauenbild in unserer Gesellschaft?
Ich glaube, wir kommen mehr und mehr dahin – oder ich möchte es zumindest glauben. Ich finde es toll, wenn wir Frauen unsere verschiedenen Seiten annehmen und ausleben. Wir sollten stolz sein auf unsere Kapazitäten, aber es uns auch erlauben, mal Fehler zu machen.
Sie lancierten Ihre Marke in einer Zeit, in der Sie in den sozialen Netzwerken ständig den kreativen Visionen anderer ausgesetzt sind. Wie gehen Sie damit um?
Ich versuche, mich von diesen Informationen und Impulsen, so gut es geht, zu distanzieren. Sehe ich etwas, bedeutet es ja, dass es bereits existiert. Dann bin ich nicht mehr daran interessiert. Zu viele Eindrücke sind überfordernd und machen einen am Ende nicht glücklich. Gleichzeitig finde ich viel Inspiration bei den ganz alten Modeschöpfern – Madame Grès, Paul Poiret, Madeleine Vionnet, Cristóbal Balenciaga. Sie alle sind ein Teil der Geschichte, ähnlich wie die Kirchen. Es ist faszinierend, zu sehen, welche Unterbekleidung man beispielsweise vor dreihundert Jahren trug.
Welches ist Ihre Strategie, um dem Lärm zu entkommen?
Ich gehe in die Natur, in die Stille oder mache Sport. Oder ich fahre Auto. Ich bin zwar keine besonders gute Lenkerin, aber zu fahren, ist für mich eine Meditation. Gleichzeitig etwas anderes zu tun, wäre schlichtweg gefährlich (lacht). Es ist wirklich verrückt, welche Gedanken in mir hochkommen, wenn ich allein rumfahre.
Arbeiten Sie der Ruhe wegen auch in Antwerpen und nicht etwa in Paris?
Antwerpen ist mein Zuhause. Hier sind meine Freunde, meine Familie, und ausserdem ist hier alles günstiger. Ich schätze die Umgebung, den Raum, die Natur drumherum. Ich brauche sie, um mich zu entspannen, meinen Kopf freizubekommen, Inspiration zu finden. Während meines Praktikums bei Alaïa lebte ich ein Jahr lang in Paris, was toll war, aber auch sehr hektisch. Immer, wenn ich mit dem Zug nach Hause fuhr, fühlte ich mich so, als könne ich wieder atmen.
Wie geht es Ihnen dabei, mit 26 Jahren schon so tief in der Arbeitswelt verankert zu sein und so viel Verantwortung zu tragen?
Es ist manchmal wirklich überfordernd. In meinem Leben passiert gerade so viel, ich muss so hart arbeiten und gleichzeitig für Freunde und Familie da sein. Ich renne jeden Abend zu spät aus dem Büro und komme gestresst da an, wo ich sein soll. Dieses Gefühl verarbeite ich wiederum in meiner nächsten Kollektion.
In welchen Teil der Kreation investieren Sie am meisten?
Je nach Zeitpunkt geht viel Aufmerksamkeit in die Silhouetten sowie in meine Collagen, bei denen ich mit Bildern, Schnitten und Bildbearbeitung spiele, um verschiedene Proportionen zu schaffen. Aber natürlich ist die Arbeit an den Kollektionen nur ein Teil der Markenführung. Der andere ist das Unternehmen selbst – Finanzen, Verkauf, Kommunikation.
Wie sind Sie dafür aufgestellt?
Ich habe ein kleines Team und seit Kurzem jemanden, der mir beim Verkauf und beim Business-Development hilft. Davor habe ich die ganze Administration neben der Schule alleine geschmissen, was schrecklich war. Dieses Chaos musste erst einmal aufgeräumt werden! Die Frauen, die mit mir arbeiten, sind alle superjung und motiviert, was viel Energie und Freude bringt. Sie alle wollen einen Fussabdruck hinterlassen.
Es ist eine interessante und herausfordernde Zeit, um Modedesignerin zu sein: Einerseits ist der Wettbewerb vielleicht grösser denn je, andererseits kann man dank der digitalen Welt quasi über Nacht weltweiten Erfolg erlangen. Wie blicken Sie auf die Branche?
Die Zeit, in der wir uns befinden, ist beängstigend – denke ich zu lange darüber nach, werde ich verrückt. Gleichzeitig fühle ich mich unglaublich frei. Alles ist möglich! Ich fokussiere mich auf die positiven Aspekte, all die Möglichkeiten, die ich habe und für die ich sehr dankbar bin. Als kleiner Brand kannst du theoretisch gleich viel Platz einnehmen wie ein grosser. Du musst nur schlau damit umgehen.
Immer mehr Marken entziehen sich dem traditionellen modischen Zyklus, veröffentlichen neue Kollektionen etwa mit limitierten Drops. Wie positionieren Sie Ihren Brand?
Wir gingen zunächst einfach mit dem Flow und schlossen uns dem traditionellen Fashion-Week- und Showroom-Kalender an, um vor Ort zu sein, wenn es die Einkäufer auch sind. Ich muss manchmal schmunzeln, wenn ich lese, dass sich die jungen Designer immer noch für den traditionellen Weg entscheiden würden. Es ist doch klar: Kennt niemand deinen Namen, hast du keine andere Wahl. Es ist nicht so, als hätte irgendwer auf dich gewartet.
Hinterfragen Sie diese Prozesse der Industrie?
Ich hinterfrage alles. Wir haben auch schon darüber nachgedacht, unsere Arbeit während der Männerschauen zu zeigen, weil wir sonst bloss drei Monate Zeit haben, um eine neue Kollektion zu produzieren. Ausserdem haben die Einkäufer zu diesem Zeitpunkt im Jahr noch mehr Budget.
Könnten Sie sich denn vorstellen, auch Männermode zu entwerfen?
Nicht wirklich. Mode ist für mich eine sehr persönliche Erfahrung. Ich kann mich nicht in einen Mann versetzen... Meine Inspiration ist immer eine Frau und die Weiblichkeit im Allgemeinen. Dennoch freut es mich sehr, wenn ich auch Männer sehe, die meine Kleidung kaufen. Mein Freund trägt oft Stücke von mir. Das sieht fantastisch aus.
Ziehen Sie ethische und wirtschaftliche Probleme und den Einfluss der Mode auf die Umwelt bei Ihrem Schaffen in Betracht?
Für mich fliessen diese Themen vielmehr in den Designprozess rein. Ein grosser Teil meiner Kollektionen wird aus upgecycelten Stoffen oder Restposten gefertigt. Wir haben einen Nachhaltigkeitsplan, den die Stadt Antwerpen unterstützt, und Partner, die für uns gebrauchte Stoffe und Kleidungsstücke wie Stiefel, Lederjacken und Decken beschaffen. Ich liebe es sowieso, mit Materialien zu arbeiten, die bereits eine Geschichte oder eine Emotion innehaben. Die haben eine Art Eigenleben, das ich verändern und weiterführen kann.
Wie sieht Ihre Zukunftsvision für die Marke Julie Kegels aus?
Ich nehme einen Schritt nach dem anderen. Mein Traum ist es, ein gesundes Business zu führen, das langfristig überleben kann. Momentan fokussiere ich mich darauf, bei meinem Kern zu bleiben und kreativ nicht vom Weg abzukommen. Es ist ein wenig so, wie ein Kind zu haben: Man nährt und wärmt es, bis es auf eigenen Beinen stehen kann. Man muss vorsichtig sein und sich auf das Wichtigste konzentrieren. Und genau darin stecke ich gerade.