Jahresringe

Japan sucht seine Zukunft in der Tradition.

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Ein Bild kommt mir in den Sinn, das Japan treffend beschreibt: Während ein Hochgeschwindigkeitszug mit über 300 Stundenkilometern eine Megacity verlässt, zupft jemand einzelne Blättchen von einem tausendjährigen Miniaturbaum. Das Bild ist kein Widerspruch: Hier erlebt man Geschwindigkeit und Langsamkeit gleichzeitig. Es gibt diesen Baum – er heisst Todoroki –, und in diesem Zug sitzen wir auf unserer Reise quer durchs Land. Von der Millionenstadt Tokio bis in den verschlafenen Südwesten des Inselstaats – auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob eine besondere Wertschätzung für die Materialität der Dinge dazu beitragen kann, dass Japan im Sog des Fortschritts seine Einzigartigkeit behält.

Wir haben die Kirschblütensaison längst verpasst und erreichen Tokio in der schwülen Frühsommerhitze. Vermutlich sollte man bei dem Klima Grossstädte meiden, Tokio ist aber eben trotz vielen Merkmalen einer Millionenmetropole erstaunlich erholsam. Dass man sich hier gut entspannen kann, hat nicht nur mit den vielen Parks zu tun. Auch alles andere an dieser Stadt ist unaufdringlicher und wirkt kleiner und sanfter, als man das von Städten sonst kennt. Die Lastwagen und selbst die Wolkenkratzer sind so gebaut, dass sich niemand bei ihrem Anblick erschreckt. Und wenn sich die Menschenmengen aneinander vorbei und über die Strassen bewegen,

dann so, als seien sie auf ihren Wegen von unsichtbarer Hand geleitet.

Niemand kommt sich in die Quere, niemand rempelt oder keift sich an. Alle sind darauf bedacht, ihre Mitmenschen nicht unnötig zu behindern. Es ist eine Dienstleistungsgesellschaft in Höchstform. Hilfe ist nie weit weg, wenn wir Touristen uns mal nicht zurechtfinden. Überall sind Leute dafür angestellt, sich zwischen Verbeugungen um alle möglichen Anliegen zu kümmern. Ihrer Motivation stehen zum Glück auch Sprachgrenzen nicht im Weg. Hinzu kommt die absurd tiefe Kriminalitätsrate: Während ich anderswo teilweise befürchte, dass mir selbst gestohlen wird, was ich gar nicht besitze, könnte ich den Inhalt meiner Hosentaschen auf Tokios Strassen verteilen und dann im städtischen Fundbüro wieder abholen. All das macht den Besuch der Stadt äusserst angenehm. Nichts ist vertraut, und doch ist nichts allzu herausfordernd.

An Faszinierendem mangelt es nicht: Im Akihabara-Viertel versammeln sich als Fantasiewesen verkleidete Cosplayer, in Shibuya überqueren allabendlich Tausende Menschen gleichzeitig die wohl bekannteste Kreuzung der Welt, und Luxusboutiquen in Ginza laden dazu ein, Erspartes freiwillig auszuhändigen. Die glitzernden Fassaden und die teilweise sehr verspielte Architektur erinnern an den leichtfüssigen Optimismus der 1980er-Jahre. Damals erlebte Japan eine Hochkonjunktur, und Tokio wurde zum Inbegriff technologischer Machbarkeit. Zusammen mit seiner Telekommunikations- und Computertechnologie exportierte Japan auch seine Kultur: Durch Videospiele, Filme, Mangas und Ani-mes verbreitete sich im Westen das Bild eines Landes in Zukunftseuphorie, in dem sich zwischen Wolkenkratzern Roboter, Samurais und Monster zankten. Dann platzte die Blase, und auf das Wirtschaftswunder folgten Jahrzehnte der chronischen Deflation.

Japan hat dadurch ein wenig an ökonomischer Strahlkraft verloren, und in Sachen Digitalisierung steht das Land hinter anderen Industriestaaten. (Ein Tipp: Es ist hier einfacher, mit Bargeld zu bezahlen als mit Kreditkarte.) Das Image einer hoch technisierten Metropole der Zukunft war eigentlich nur schwer vereinbar mit einer japanischen Gesellschaft, die in weiten Teilen noch sehr traditionell eingestellt ist. Zwischen den Hochhäusern der Geschäftsviertel trotzten Shinto-Tempel und historische Gärten dem marktwirtschaftlichen Druck zur Veränderung. Während die ökonomischen Kennzahlen sich erst freudig überschlugen und dann purzelten, folgte dieses andere Japan einem viel gemächlicheren Tempo. Es wusste, dass das Seelenwohl nicht in menschlichen Dimensionen zu messen ist.

Das traditionelle Japan finden wir etwas nördlich von Tokio. In einem verschlafenen Wohnquartier von Saitama liegt das Omiya-Bonsaidorf. Es wurde 1925 von Tokioter Bonsaizüchtern gegründet, die nach dem grossen Kanto-Erdbeben hier Zuflucht für ihre Baumschulen fanden. Wer im Dorf wohnen wollte, durfte sein Haus nur einstöckig bauen, musste mindestens zehn Bonsai besitzen, den Garten mit Hecken umgrenzen und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Heute können sechs Gärten und ein Museum besucht werden. In ihnen werden Bäume aufgezogen, zurückgebunden und beschnitten, gewässert und geputzt. Was sich anhört wie eine Mischung aus Folter und Spa-Behandlung, hat zum Ziel, dass die Pflanzen klein bleiben, aber ausgewachsen aussehen. Die Topfbäume bedürfen der täglichen Pflege, und das während ihres manchmal jahrhundertelangen Lebens. Mit offenem Mund stehe ich im Museum vor einer Ajan-Fichte mit Namen Todoroki, deren Alter auf irrsinnige tausend Jahre geschätzt wird. Was für ein Gedanke: Generationen von Gärtnern haben sich schon um diesen Baum gekümmert und werden es weiterhin tun, egal was kommt.

Bonsai stehen in unserer Vorstellung für das alte Japan der Shogune und Samurai. Das Erbe dieser Epoche ist noch am stärksten in Kioto, Kanazawa und Nara zu spüren – der Grund, warum es viele Touristen bei ihrem ersten Besuch in diese Städte mit ihren pittoresken, alten Quartieren, Kaiserpalästen und buddhistischen Tempeln zieht. In Kanazawa erleben wir Szenen wie in den Ansichten des Holzdruckmeisters Hiroshige: Pärchen in streng gefalteten Kimonos schlendern durch die Kenroku-en-Gartenanlage, und im Teich einer Samurairesidenz schwimmen bunt gefleckte Koi-Karpfen. Doch auch dieses Japan ist längst in der Gegenwart angekommen: Im nahe gelegenen Tempel lässt ein Mann im Anzug sein neues Auto von einem Shinto-Priester segnen.

Japan hat in seiner Geschichte schon einige Ereignisse durchlebt, die zu einem Bruch mit der Vergangenheit geführt haben. Zu einer ersten Zäsur kam es im späten 19. Jahrhundert, als die japanische Gesellschaft nach westlichem Vorbild umgestaltet und das Land in die Moderne katapultiert wurde. Die Niederlage im Zweiten Weltkrieg bedeutete dann das Ende des Kaiserreichs und markierte den zweiten Zeitenbruch, der aber ungleich traumatischer war. So verschwindet das alte Japan sehr rasch aus dem Blickfeld, wenn man Kanazawa im Shinkansen-Zug in Richtung Hiroshima verlässt. Nachdem am 6. August 1945 die Atombombe im Stadtzentrum explodierte, war dieses Japan nicht mehr. Das Hiroshima, das wir besuchen, ist eine moderne Grossstadt mit über einer Million Einwohnern. Zeuge der Zeit vor der Stunde null ist nur ein einziges Gebäude, das heute als Mahnmal dient … und ein paar Bäume. Über die Innenstadt verteilt finden sich nämlich Dutzende Hibakujumoku, Atombombenbäume, die der Hitze, dem Druck und der Strahlung standgehalten haben. Der bekannteste ist ein Ginkgo im Shukkei-en-Wandelgarten. Während der Garten durch die Explosion komplett zerstört und nach dem Krieg restauriert wurde, steht der windschiefe Ginkgo seit zweihundert Jahren an seinem Platz.

Dann ist der Zug schon wieder weg. Durch dicht bewaldete Täler fahren wir nach Yufuin in der südwestlichen Provinz Oita, auf der Suche nach jener Ruhe, von der nur die Erde weiss.

Die Region ist bekannt für ihre Thermalbäder, Onsen genannt. Auf dem Hügel über der Stadt geben wir uns dem sanften Resortluxus hin, wie ihn einzig Japan kennt. Der renommierte Architekt Kengo Kuma hat zwischen Reisfeldern und Eichenwäldern ein Hotel gebaut, das sich am lokalen Baustil orientiert – mit viel Bambus, dunklem Holz und Reisstroh. Beim Betreten des «Kai Yufuin» lassen wir die Aussenwelt zurück. Wir schälen uns aus der Strassenkleidung und schlüpfen in den Yukata, die japanische Version eines Bademantels. Diesen behalten wir während unseres gesamten Aufenthaltes an, zum Spazieren um die Reisterrassen ebenso wie zum Essen. Vor dem Eingang zum Badehaus versuche ich, mir die feinen Gepflogenheiten der japanischen Badekultur in Erinnerung zu rufen: Nackt ausziehen? Ja. Welches Tuch? Überhaupt ein Tuch? Umschlingen oder auf den Kopf legen? Keine Ahnung! Ich bin für den Moment der einzige Badegast und lege mich in den Aussenpool mit Blick auf den Yufu-Berg.

Mir fällt ein, dass mich Baden eigentlich langweilt, doch da ist es schon geschehen: Das sanfte Umsorgen des heissen Wassers hat mich eingelullt. Die folgenden zwei Tage verbringe ich im Halbschlaf zwischen Bett und Badewasser. Ab und zu werde ich mit unbekannten Köstlichkeiten gefüttert und mit Tee hydriert. Vor dem Fenster wogen die Sägezahn-Eichen im Wind, und die Zeit steht still.

Bäume haben eine ganz besondere Stellung in der japanischen Kultur. Das zeigt sich nicht nur alle vier Jahre, wenn beim traditionellen Onbashira-Festival in Zentraljapan Waghalsige auf riesigen Baumstämmen einen Hügel herunterrutschen. Es beweisen dies auch die japanischen Möbel und die Architektur. Japan spielt nämlich in einer eigenen Liga, wenn es um die Verarbeitung von Holz geht. Nirgendwo sonst auf der Welt finden sich so elegante Holzverbindungen wie hier. Der Grund dafür liegt in der antiken Tradition: In Japan entwickelte man schon früh immer raffiniertere Methoden, das Material ohne Metallstifte und Leim zu verkeilen. Dass solche Verbindungen halten, zeigt sich in der Tempelstadt Nara. Eine der beiden Pagoden des buddhistischen Yakushi-ji-Tempels wurde seit ihrer Konstruktion im 8. Jahrhundert nicht restauriert und ist damit das älteste noch stehende Holzbauwerk der Welt – im erdbebenreichsten Land überhaupt.

Trotz oder gerade wegen seiner langen Geschichte schien der Holzbau nach dem Zweiten Weltkrieg eine veraltete Technologie. In den Boomjahren war die Architektur Japans auf Fortschritt getrimmt: Gebaut wurde möglichst hoch und mit viel Glas, Stahl und Beton. Mit der Automatisierung des Baus ging auch die alte Kunst der Holzverbindung verloren. In jüngerer Zeit lässt sich aber eine wiedergewonnene Wertschätzung dieser Tradition feststellen. Architekten wie Kengo Kuma, Ryue Nishizawa und Shigeru Ban beweisen, wie zeitgemäss das Baumaterial Holz ist. Mit seinen Eigenschaften antwortet es auf unser gegenwärtiges Bedürfnis nach einem sensibleren Umgang mit Ressourcen: Es schafft ein angenehmes Raumklima, ist nachhaltig und standortspezifisch.

Um das Potenzial traditioneller Baumethoden für eine Architektur der Zukunft zu sehen, fahren wir nach Karuizawa. Hier in den Bergen, zwei Stunden von Tokio entfernt, hat das Hotel Shishi-Iwa House drei architektonische Visionen versammelt, die zeigen, dass Natur und Kultur Hand in Hand gehen können. Um die imposanten Bäume auf dem Grundstück des Hotels nicht zu gefährden, schlängelt sich der Holzbau von Shigeru Ban elegant um sie herum. Auch das zweite Gebäude des Architekten, eine offene Holz- und Glaskonstruktion mit grosser Lounge, Restaurant und Bar, integriert sich in die umliegende Natur. Wir übernachten im dritten und neusten Teil des Komplexes: Ryue Nishizawa, der eigentlich vor allem für seine minimalistischen Stahl- und Sichtbetonbauten bekannt ist, hat Pavillons aus schwarz gebranntem Zedernholz durch offene Gehwege verbunden, was dem dunklen Gebäude eine verblüffende Leichtigkeit verleiht. In der Durchsicht wird der umgebende Wald zum Teil der Architektur. Im Kontrast zur schwarzen Fassade sind alle Innenräume inklusive Badewannen komplett in helle Hinoki-Zypresse gekleidet. Das Edelholz wird gewöhnlich nur für Paläste, Tempel und Schreine verwendet. Als ich mich aufs Bett lege, hüllt mich der intensive Duft von Harz und Zitrone ein, und ich entscheide, dieses Zimmer nie mehr zu verlassen. Draussen kann geschehen, was will – in diesem Raum aus Hinoki bin ich sicher vor dem Werden und Vergehen der Welt. Dann klopft es an der Tür: Zeit für die Teezeremonie. Ich muss weg.

Tipps

Anreise

Swiss und Ana fliegen mehrmals wöchentlich direkt ab Zürich. Ab Genf reist man mit Zwischenstopp.

Unterwegs

Japan Rail Pass

Dass Inlandflüge zahlreich und preiswert sind, ist kein Grund, sich das Erlebnis einer Zugreise durch Japan entgehen zu lassen. Nirgendwo auf der Welt – die Schweiz eingeschlossen – ist das Zugreisen komfortabler. Die Züge sind geräumig, pünktlich und unheimlich schnell. Für ausländische Gäste gibt es den Japan Rail Pass, der zu unbegrenztem Reisen auf einem Grossteil des japanischen Zugnetzes berechtigt. Er kann bereits vor der Abreise gekauft werden.

jr-pass.ch

Check-in

Shishi-Iwa House

Wenn die Sommerhitze Tokios zu drückend wird, bietet das Retreat in den nahen Bergen Abkühlung. Die zwei Architekten und Pritzker-Preisträger Shigeru Ban und Ryue Nishizawa haben an diesem Ruheort die Grenze zwischen Mensch und Natur, zwischen innen und aussen aufgehoben. Die erstklassige Architektur des neusten, 2023 eröffneten Teils des Hotels dreht sich um das Konzept «ma» – um das, was dazwischen liegt, um den negativen Raum. Sehr empfehlenswert ist auch das hauseigene Restaurant Shola. Mit lokalen und saisonalen Zutaten kreiert Küchenchef Masashi Okamoto ausserordentliche Gerichte, die genauso elegant wie lecker sind. Die Getränkekarte bietet zudem Gelegenheit, die Vielfalt von japanischem Sake, Wein und Whisky kennenzulernen.

DZ ab Fr. 371.–.

shishiiwahouse.jp

Kai Yufuin

Kengo Kuma hat für Hoshino Resorts ein einzigartiges Hotel mit Thermalbad (japanisch: Ryokan) geschaffen, das Tradition und Gegenwart verbindet. Für seinen Entwurf liess er sich von der Materialität und Architektur der Bauernhäuser der Region Oita inspirieren. Zwei Arten von Unterkünften stehen zur Auswahl: eine ausgerichtet auf die Reisterrassen, eine mit Blick auf die Sägezahn-Eichenwälder. Eingebettet in diese atemberaubende Landschaft, kann man von der Terrasse aus den Wechsel des Wetters, der Tages- und Jahreszeiten erleben. Wenn abends das Konzert der Frösche aus den Reisfeldern ertönt, wird in halbprivaten Essbereichen mit Wänden aus Washi-Papier ein mehrgängiges Kaiseki-Mahl serviert und nimmt den Gast auf eine kulinarische Reise durch die Gegend um Yufuin. Das Badehaus ist bis spätabends geöffnet – es gibt keine bessere Zeit für ein Bad in der heissen Quelle.

DZ ab Fr. 546.–, Dinner inklusive.

hoshinoresorts.com

Entdecken

Ota-Kunstmuseum für Ukiyo-e

Die japanische Kunst des Holzdrucks nennt sich Ukiyo-e und erlebte zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert ihre Hochblüte. Auch Europa war beim Auftauchen der ersten dieser Drucke im Westen beeindruckt von den Kompositionen der japanischen Meister. Besonders die Impressionisten in Frankreich liessen sich von der Ästhetik von Ukiyo-e inspirieren. Das Ota-Museum in Tokio wurde 1980 aus der Privatsammlung von Seizo Ota gegründet und zeigt in monatlich wechselnden Ausstellungen jeweils eine Auswahl seiner enormen Sammlung von rund 14 000 Drucken.

ukiyoe-ota-muse.jp

Naoshima

Die Insel Naoshima ist vollständig der Kunst gewidmet. Einen Abstecher hierhin sollte man unbedingt einplanen. Verstreut entlang der Küste finden sich mehrere Galerien und Museen, einige designt vom Architekten Tadao Ando. Zu sehen sind unter anderem Werke von Yayoi Kusama, Hiroshi Sugimoto, Claude Monet und James Turrell. Die kleine Insel lässt sich leicht mit gemieteten Fahrrädern oder im Shuttlebus erkunden. Wer Zeit hat, sollte sich eine Übernachtung im Benesse House gönnen. Naoshima eignet sich auch als Tagesausflug von Okayama, Osaka oder Kioto aus.

benesse-artsite.jp

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