Stumme Monumente

Mit ihrer Kunst will Doris Salcedo Empathie wecken für die Opfer von Gewalt. Die Fondation Beyeler feiert die engagierte und eigenwillige Kolumbianerin mit einer Einzelausstellung.

Doris Salcedo «Palimpsest», 2013-2017, Installationsansicht Fondation Beyeler, Riehen.

Interview

Wer vor einer von Doris Salcedos Installationen steht, kämpft mit widersprüchlichen Gefühlen. Oft geht eine zeremonienhafte Stille von ihnen aus, also möchte man sich zunächst willig der meditativen Ruhe hingeben. Doch Entspannung ist das Letzte, das sich einstellt, wenn man um den Hintergrund der Werke weiss. Eher macht sich Bedrückung breit, oder Entsetzen.

in der Fondation Beyeler zu sehen ist: 66 aneinandergereihte Steinplatten, auf denen in grosser, abwechselnd heller und dunkler Schrift Namen erscheinen. Die einen sind mit Sand in die poröse Oberfläche eingelassen, die anderen bestehen aus Wassertropfen, die aus feinsten Düsen durch die Poren der Bodenplatten dringen und die dunkeln Schriftzüge für einen Moment überlagern, bevor sie wieder versickern. Sie gehören 171 Menschen, die auf der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Man steht inmitten eines Mahnmals.

«Ich möchte die Menschen zum Weinen bringen», hat die 65-Jährige einmal über die Motivation gesagt, die ihrer Kunst zugrunde liegt. Es ist, als wolle sie gegen die Verdrängung und Abstumpfung ankämpfen, mit der wir uns vom täglichen Nachrichtenstrom über das Unglück anderer abschirmen.

Seit fast vierzig Jahren beschäftigt sich Salcedo mit dem Kreislauf von Gewalt, Trauer und Erinnerung. Sie recherchiert, führt Interviews mit Angehörigen von Opfern und transformiert das Geschehene in stille Monumente des Horrors. Dafür erhielt sie Preise, wurde an Biennalen in São Paulo, Liverpool und Istanbul eingeladen, ihre Kunst wird von Museen wie dem Guggenheim, dem Museum of Modern Art oder der Tate Modern gesammelt.

Als wir uns per Videocall treffen – Doris Salcedo lebt und arbeitet in Bogotá –, füllt ihre schwarz-grau melierte Haarpracht fast den ganzen Bildschirm. Sie redet mit ruhiger, eindringlicher Stimme, lässt sich Zeit mit ihren Antworten, spricht mit Leidenschaft über das, was sie bewegt, wirkt ernst. Aber sie kann auch lachen.

«Palimpsest» ist ein unglaublich symbolträchtiges Werk, das eine der grössten Tragödien der Gegenwart thematisiert. Warum war es Ihnen wichtig, die Namen der verunglückten Menschen zu nennen?

Ich fand es wichtig, dass die Toten einen Namen haben. Kunst hat auch eine Erinnerungsfunktion. Was immer sie benennt, bleibt im Gedächtnis und in der Vorstellung der Menschen. Dinge, die nicht repräsentiert werden, gehen leicht vergessen.

Ihre Arbeiten basieren immer auf umfangreichen Recherchen. Wie gingen Sie bei diesem Projekt vor?

Wir baten verschiedene Organisationen und NGO um Hilfe, die Identitäten der Opfer herauszufinden. Doch wir erhielten keine Unterstützung. Sie konnten schlichtweg nicht verstehen, warum eine Person aus Kolumbien sich für die Flüchtlingsdramen auf dem Mittelmeer interessieren könnte. Also mussten wir selber Friedhöfe aufsuchen, Informationen aus der ägyptischen oder türkischen Presse sammeln und eigene Recherchen anstellen. Es dauerte mehrere Jahre, die Namen der Vermissten und Toten zu finden. Wenn wir uns bei einem sicher waren, versuchten wir, mehr über die Lebensgeschichte des Menschen in Erfahrung zu bringen: Wie er seinen Lebensunterhalt verdiente, die Gründe, warum er sein Zuhause verliess. So haben wir eine Sammlung aufgebaut, die für diese Ehrung unerlässlich wurde.

Inwieweit betrachten Sie Ihre Arbeit als politische Kunst?

Mir geht es in erster Linie um Menschlichkeit. Wenn man aber die Namen der Migranten nennt, die gezwungen waren, zu flüchten, und an diesem Unort starben, hat das auch eine politische Dimension. Denn die Gründe ihrer Flucht liegen in politischen Unruhen, in Nahrungsmittel- und Arbeitsmangel, es geht um das Gefälle zwischen Nord und Süd, Westen und Osten, um Grenzen und Ausgrenzung. Aber wie gesagt: Bei meinen Arbeiten geht es mir darum, den Menschen ihre Würde zurückzugeben. Und einen Raum zu schaffen, in dem wir uns an Menschen erinnern können, die uns egal waren, als sie noch lebten.

Das Grauen und die Brutalität in ihrem eigenen Land hat Doris Salcedo zu der Künstlerin gemacht, die sie heute ist. Während Jahrzehnten war Kolumbien von Gewalt beherrscht, von den Kämpfen, die sich Terroristen, Todesschwadronen und Mitglieder des Drogenkartells lieferten und von denen immer auch die Zivilbevölkerung betroffen war. Menschen wurden verschleppt und ermordet. Das Thema Gewalt war allgegenwärtig.

Als Salcedo Anfang der 1980er-Jahre an der Universität von Bogotá Malerei und Theater studierte, war Beatriz González, die Überfigur der kolumbianischen Kunst, ihre Lehrerin. Sie malte Särge, Trauernde und Tote.

1983 ging Salcedo nach New York, um an der New York University Kunst zu studieren. Und sie reiste. In Madrid sah sie Goya im Prado, in Ägypten die Pyramiden. 1985 kehrte sie zurück und lehrte einige Jahre am Instituto de Bellas Artes und an der Universidad Nacional de Colombia.

Sie studierten in New York in einer Zeit, da die Kunstwelt noch nicht globalisiert war. Wie war das für eine junge Frau, die aus Kolumbien kam?

Es war eine Zeit, in der der globale Süden als unterentwickelt bezeichnet wurde. Ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass unser Talent, unser Verstand und unsere Intelligenz minderwertig waren. Und beschloss, zu beweisen, dass sie es nicht sind. In New York gab es damals nichts anderes als den westlichen Kunstkanon.

Welche westlichen Künstlerinnen und Künstler haben bei Ihnen in jungen Jahren den grössten Eindruck hinterlassen?

Goya und Rembrandt. Goya, weil er Krieg aus der Perspektive der Opfer malte. Rembrandt wegen der unglaublichen Ehrlichkeit seiner Selbstporträts. Und dann faszinierte mich Joseph Beuys. Seine Idee, dass die Skulptur auch sozial aufgefasst werden kann, hat mich beeindruckt, und die «soziale Skulptur» im Sinne von Beuys war dann auch mein Ausgangspunkt. Beuys hat mir gezeigt, dass Künstler der Gesellschaft durch ihre Vorstellungskraft verschiedene Wege aufzeigen können, Wahrheiten zu verstehen. Künstler schaffen Bilder, die die Gesellschaft nutzen kann, um sich eine menschliche Gemeinschaft vorzustellen.

1985, das Jahr, in dem Doris Salcedo nach Bogotá zurückkehrte, war das Jahr, in dem Terroristen den Justizpalast der kolumbianischen Hauptstadt stürmten und Geiseln nahmen. Ohne zu verhandeln, griffen Armee und Polizei das Gebäude an. Dreiundfünfzig Justizangestellte und Besucher, darunter elf Richter, kamen ums Leben. Das Ereignis schlug eine Wunde ins Bewusstsein der kolumbianischen Gesellschaft. Zum siebzehnten Jahrestag der Tragödie liess Salcedo stellvertretend für die Verstorbenen Stühle vom Dach des Justizgebäudes absenken. «Noviembre 6 y 7» (2002) wurde zum Akt der Erinnerung.

In den Folgejahren setzte Salcedo wiederholt mit Beton ausgegossene Stühle, Tische, Schränke als Symbole für Tod und Abwesenheit ein. Ihrer Funktion beraubt, wurden sie zum Sinnbild von erstarrtem Leben, stumme Monumente vergangener Existenzen. Es sind kühle, minimalistische Arbeiten, die den Eindruck von etwas Unbeschreiblichem wecken, von etwas, das in der Vergangenheit liegt und mit Gewalt zu tun hat – unsichtbar, aber spürbar. Wie eine Archäologin macht Salcedo Ausgrabungen – aber nicht von Kulturgütern, sondern von Traumata. Und erreicht damit Menschen unterschiedlichster Herkunft: Die Alltäglichkeit ihrer Materialien spricht eine universelle Sprache.

Für «Orphan’s Tunic» (1996/97) schob sie zwei Holztische unterschiedlicher Grösse ineinander. Wo sie sich berühren, sind sie mit Tausenden hauchdünnen Fäden aus roher Seide und Menschenhaar zusammengenäht – so, als ob sie zusammengehören würden. Zeichenhaft für Lebensunterbrüche.

Für die Tate Modern in London schlug Doris Salcedo einen 167 Meter langen Riss in den Zementboden: «Shibboleth» (2007) stand für die Ausgrenzung und die Rassismuserfahrung, die Menschen aus der Dritten Welt in Europa machen. Aber die Kolumbianerin beherrscht auch eine leise, poetische Sprache, schafft Werke von unglaublicher Fragilität. Für «A flor de piel» (2011/12) etwa nähte sie gemeinsam mit vierzig Personen Tausende von chemisch präparierten Rosenblättern zu einem Tuch zusammen. Das hauchdünne Gebilde erinnert an ein Leichentuch – als wolle man damit den zahllosen unbegrabenen Toten wenigstens den Schutz der Schönheit geben.

Normalerweise denkt man an Journalisten, Gerichtsmediziner, Polizisten, Richter, die sich mit dem gewaltsamen Tod auseinandersetzen. Worin besteht da die Rolle der Kunst?

Ich glaube, Kunst kann Bilder und Ideen vermitteln, die über das Intellektuelle hinausgehen. Ein Zeitungsartikel ist nicht imstande, die Vielschichtigkeit eines Lebens auszudrücken. Ich aber beziehe Emotionen, ja sogar Schönheit mit ein, um den Opfern und ihren Angehörigen ihre Würde zurückzugeben.

Sie verwenden alltägliches Material wie Holz, Schränke, Tische, Zement, Schuhe, Textilien, um Opfern zu gedenken. Betroffene haben sicher oft andere Vorstellungen von Gedenkstätten.

Angehörige wollen für gewöhnlich Namen und Fotos sehen, um sich an ihre Liebsten zu erinnern. Doch ich beziehe mich nie nur auf ein einziges Opfer, sondern immer auf eine Gruppe. Wichtig ist mir aber, dass das Material, mit dem ich arbeite, mit dem Leben und der Umgebung der Opfer verbunden ist, etwa ihre Haustüre. Das wird verstanden.

Hat Kunst auch eine heilende Funktion?

Ich glaube zumindest, dass sie Würde und Sinn zurückgeben kann. Das ist der Grund, warum ich tue, was ich tue. In Bogotá habe ich ein Werk aus dem eingeschmolzenen Metall von siebenunddreissig Tonnen Waffen von Guerillakämpfern kreiert. Ich habe Frauen, die von bewaffneten Männern vergewaltigt worden waren, eingeladen, das Metall zu Bodenfliesen zu verarbeiten. Diese Frauen, deren Körper geschunden wurden, haben ihre ganze Kraft darauf verwendet, mit riesigen Hämmern auf das Metall einzuhauen. Es war faszinierend, ihre Verwandlung mitanzusehen. Durch sie wurden Werkzeuge des Todes in einen Ort des Lebens verwandelt. Die Frauen kamen vom Zustand des Schweigens zum Reden, sie veranstalteten Workshops und luden andere Frauen zum Sprechen ein. Es war eine transformierende Erfahrung.

Sie beginnen jede Arbeit mit Interviews. Warum genügen Zeitungsberichte nicht?

Ich muss die Opfer oder die Angehörigen befragen, um zu verstehen versuchen, was wirklich geschehen ist. Nach meinen Interviews muss ich das Gehörte so weit verinnerlichen, dass ich fühlen kann, was dem Opfer widerfahren ist, den Schmerz, das Trauma.

Gibt es etwas Bestimmtes, das Sie aus den Gesprächen mit Angehörigen oder Gewaltopfern gelernt und für sich mitgenommen haben?

Diese Menschen lehren einen, bescheiden zu sein. Sie haben das Schlimmste überlebt und verfügen über eine Weisheit und Grosszügigkeit, die man bei anderen nur schwer findet. Sie haben gelernt, mit einem Trauma umzugehen, mit ihm zu leben. Das macht sie sensibler für den Schmerz anderer. Und viele von ihnen müssen ihren Lebensunterhalt weiter selber verdienen. Es gibt keine staatliche Hilfe, niemand, der sie rettet. Ich habe wirklich viel Tapferkeit gesehen.

Wie halten Sie bei den Recherchen Ihre eigene psychische Gesundheit intakt?

Das Zuhören schmerzt oft. Doch der Umgang mit den Opfern lehrt mich viel darüber, wie man mit Schmerz leben kann. Ich lese zudem viel im Bereich der Philosophie und Psychologie. Und manchmal, wenn es mich überkommt, mache ich Psychotherapie.

Gibt es Autoren, die es Ihnen besonders angetan haben?

Der kamerunische Philosoph Joseph- Achille Mbembe zum Beispiel. Er hat Bücher verfasst, die mir geholfen haben, zu verstehen, an was für einem Ort und in was für einer Zeit ich lebe. Zudem lese ich immer wieder Lyriker, die das Trauma des Holocaust oder der Stalin-Ära aufarbeiten: Paul Celan, Nelly Sachs, Ossip Mandelstam. Und den jungen Dichter Ocean Vuong, ein Flüchtling aus Vietnam. Ich finde es bezeichnend, dass einer der besten Dichter von heute ein Flüchtling ist.

Wenn Sie etwas tun möchten, das Ihnen Freude und Energie gibt, was machen Sie?

(Lacht.) Ehrlich gesagt erfüllt mich nichts mit mehr Energie, als eine klare Sprache gefunden zu haben, mit der ich etwas ausdrücken will. Danach ist es meine grösste Freude, es zu vollenden, es zu installieren und darauf zu schauen, dass es richtig gut aussieht.

Ihre grösste Freude ist also Ihre Arbeit?

Ja. Wenn sie den Zeugnissen gegenüber, die man mir abgelegt hat, treu bleibt.

«Doris Salcedo», Fondation Beyeler, Riehen, bis 17. September.

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