Kontemporäre Erlebnisgastronomie

Im Kollektiv kreativ

Liebe geht durch den Magen — und neu auch Luxus. Warum Marken vermehrt auf Erlebnisgastronomie setzen.

Glanzleistung

Velouté von Hokkaido-Kürbis und gepickelte Sauerampfer zur Vorspeise. Geschmorte Rehschulter mit Rotwein, Johannisbeeren und Spätzle zum Hauptgang. Und dann, pünktlich zum Dessert, werden die meterhohen Türen des Wiener Belvedere-Palasts aufgestossen: Perfekt synchron strömen schwarz gekleidete Kellner herein, in ihren Händen balancieren sie mehrstöckige Torten in verschiedenen Pastellfarben. Insgesamt 34 Stück thronen wenig später auf einem langen Holztisch. Ein Marie-Antoinette-Märchen, aufgeführt im Jahr 2023. Handys blitzen auf, das Buffet ist eröffnet: «Sweet Surprise by Sophia Stolz».

Der krönende Abschluss des Dinners vom Mode-Onlineshop Mytheresa mit dem Luxusbrand Miu Miu vergangenen November geht als Highlight in die junge Karriere von Stolz ein, die sich heute als Cake Artist – Tortenkünstlerin – und Creative Director betitelt. Unter ihrem Instagram-Post dieser Szene mit Bildunterschrift «Was it even real?» landen am nächsten Morgen fünftausend Herzen und 200 Kommentare. Sie sind von all denjenigen, die das Spektakel miterleben durften, und solchen, die es gern getan hätten. Die Fotos zeigen die gebürtige Wienerin, wie sie Torte um Torte anschneidet. Dazu trägt sie nicht Schürze, sondern Miu Miu.

«Jede Marke strebt danach, einen Event zu kreieren, der besser ist als der vorherige der Konkurrenz», sagt die 28-Jährige. Spezialisiert auf Tortenkunst, Food-Styling und die Kreativdirektion von Events, backt Stolz seit 2021 hauptberuflich – für die Augen von aktuell 31 000 Followern ihres Instagram-Accounts @stolzes sowie für Kunden wie Chanel, Fendi oder Netflix. Ihre Kreationen reichen dabei von verträumt schön bis düster und «sterbend». Für das Dinner in einer Wiener Kunstgalerie tischte sie einst eine optisch verkohlte Schokoladentorte auf, in Anlehnung an die Vergänglichkeit von Leben und Lebensmitteln. Die Faszination für die Verschmelzung von Kunst und Essen bestehe für sie darin, Grenzen auszuloten und neue Dinge mit einem eigentlich banalen Medium auszuprobieren, so die Foodkünstlerin Stolz. In erster Linie aber will sie Momente schaffen, die in Erinnerung bleiben.

Es ist dieselbe Währung, mit der Luxusbrands der Mode- oder Designindustrie heute agieren: ob zauberhaft oder edgy – Hauptsache, unerwartet. Multisensorische Erlebnisse, wie sie Stolz bietet, schlagen genau in diese Kerbe. Sie hinterlassen Kundschaft, Gast oder Zuschauer mit einem neuen Zugang zur Marke und deren Identität. Und natürlich mit diversen Schnappschüssen auf dem Handy, die am nächsten Tag auf den sozialen Medien landen. «Spezielle kulinarische Erlebnisse können eine Markenidentität auf subtile und unaufdringliche Weise übersetzen und die Attribute, für die ein Brand steht, erweitern», so Stolz. Ihre Eventkonzepte im Auftrag einer Marke starten deshalb immer mit einer umfangreichen Recherche und dem Eintauchen in deren Geschichte, Werte und Sprache. Wie präsentiert sich eine Firma? Welche Botschaft möchte sie vermitteln? Die Ausführung erfolgt dann meistens anhand einer Carte blanche. Kunden klopfen schliesslich an, um ein Stück von Stolz’ kreativem Kuchen zu bekommen, wortwörtlich.

«Diese neuen Eventstrategien priorisieren die emotionale Verbindung mit den Besuchern», bestätigt auch Samuel Bégis, der als Set-Designer dazu beiträgt, Konzepte künstlerisch und gestalterisch aufs nächste Level zu heben. Zu seinen Klienten gehören trendige Modehäuser wie Loewe, Kenzo oder Isabel Marant. Für Jacquemus designte er nicht nur Show- und Kampagnensettings, sondern auch Büro und Showroom. «Vor diesem neuen Trend der erlebnisreichen Get-Togethers waren Gäste und Kunden stets nur Zuschauer. Nun sind sie aktiv an den Veranstaltungen beteiligt, können sich durch Berühren, Riechen und Schmecken auf ein Erlebnis einlassen, was eine bedeutende Veränderung darstellt», so Bégis. Die Bewegung führt er zum einen darauf zurück, dass Brands nicht zuletzt seit der Pandemie den Druck verspüren, eine Verbindung zum Kunden herzustellen, die über die traditionelle Modenschau hinausgeht. Zum anderen gilt es, Einflüsse und Inspirationen zu vermitteln, die ein Produkt geprägt haben. Events, die mit einzigartigem Essen und kreativem Set-Design ermöglichen, eine Geschichte zu erzählen, sind für eine Marke heute entscheidend.

Im Falle von Bégis, der in Paris lebt und arbeitet, widerspiegelt sich ein solches Narrativ gern mal in einem in 120 Stunden handgefertigten, zwölf Meter langen Tisch, der an eine organische Keramikskulptur erinnert, auf welchem das Team aus der Küche Buttertürmchen baut und Nischen mit Salzen und Gewürzen füllt. Oder er lässt mannshohe Parmesanreiben und einen interaktiven Tisch herstellen, wie kürzlich für den Champagnerhersteller Veuve Clicquot. Die Möglichkeiten seien endlos, so Bégis, der Ansatz «Alles ist möglich» befreiend. Seine fortlaufende Inspirationsquelle? «Alice im Wunderland». Was ihn limitiere, sei ab und an einzig das Budget.

Kilogrammschwere Türme von geschlagener Butter, meterhohe Trompe-l’Œil-Torten oder bunte Desserts in Form von ikonischen Parfums – bleibt da der kulinarische Anspruch bei aller Instagrammability auf der Strecke? Ganz im Gegenteil, findet Luca Pronzato, der mit seiner Firma We Are Ona auf der ganzen Welt Events und Pop-up-Restaurants veranstaltet. Sein gastronomischer Anspruch befindet sich mit dem künstlerischen, visuellen und architektonischen stets auf Augenhöhe, sprich: Das Essen des Chefkochs, den er speziell für einen Anlass auswählt, ist immer genauso gut wie die Location, die Möbel und die Dekoration. Pronzato ist dafür bekannt, für seine Projekte stets die angesagtesten Kreativen an Bord zu holen – so wie Harry Nuriev, Sabine Marcelis oder Willo Perron. Kulinarisch versorgt werden die Gäste abwechselnd von hippen Newcomern aus der Szene und gestandenen Dreisterneköchen aus Pronzatos Portfolio. Der Gastgeber, der pro Jahr rund zehn Pop-ups sowie hundert Events weltweit – viele davon für Luxusmarken – organisiert, war früher Sommelier im Restaurant Noma in Kopenhagen. Wenn jemand weiss, wie immersive Gastronomie funktioniert, dann er.

«Erlebnisse sind der neue Luxus», ist Pronzato überzeugt, und solche multidisziplinären Ereignisse auch immer eine Stimulation für die Kreativität aller Beteiligten. Kunst – wie immer sie auch aussehen mag – befruchtet sich schliesslich gegenseitig. Und kreiert in perfektem Einklang Erlebnisse, die sich auch von der besten Kamera nicht einfangen lassen.

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