Industriedesigner Konstantin Grcic im Interview

Über die Effizienz des Entwerfens

Wenn hinter minimalistischem Design viele Gedanken stecken, dann heisst der Gestalter Konstantin Grcic. Nach dreissig Jahren im Beruf hat er die Neugier nicht verloren, ist reifer geworden und ein wenig weise. Das steht ihm gut.

Konstantin Grcic

In der Halle 22 des Salone del Mobile drängen sich die Besucher in den Gängen. Das schöne Wetter über Mailand bleibt an diesem Tag Mitte April vor der Tür. Auf den Messeständen sind die Spots auf all die Neuheiten gerichtet, die die Möbelbranche hier einem internationalen Publikum vorstellt. Wir treffen Konstantin Grcic beim italienischen Hersteller Magis, für den er seit über zwanzig Jahren arbeitet. Was ist das für ein Mann, dem alle, die vorübergehen, anerkennend zunicken? Die nächsten knapp fünfzig Minuten geben Aufschluss.

BOLERO Welche Neuheiten stellen Sie dieses Jahr an der Messe vor?

KONSTANTIN GRCIC Eigentlich gar nicht so viele. Bei Magis zeigen wir die Überarbeitung des Stuhls Twain, den wir bereits letztes Jahr als Prototyp gezeigt haben. Bei Plank gibt es die neue Version eines schon bestehenden Stuhls: Monza. Mit Alpi, einem Furnierhersteller, wurde die Zusammenarbeit erweitert. Und für Mattiazzi, einen Möbelhersteller aus dem Friaul, arbeite ich seit drei Jahren als Art Director. Lange habe ich selbst für die Firma entworfen, nun kümmere ich mich um andere Dinge, darunter die strategische Ausrichtung, das Erscheinungsbild oder den Messestand.

Ein Möbelstück, das auf einer Messe präsentiert wird, ist also manchmal noch gar nicht fertig?

Ganz oft sogar. Natürlich nimmt man sich immer vor, dass das, was man zeigt, auch produktionsreif ist. Aber die wenigsten Firmen, mit denen ich zusammenarbeite, schaffen das. Es ist frustrierend, doch manchmal auch hilfreich. Die Präsentation ermöglicht eine Reflexion, man bekommt ein Feedback. Das lässt sich nutzen.

Inwiefern?

An Twain etwa, einem Safaristuhl, wurde im letzten Jahr viel verbessert. Wir haben die Proportionen verändert und gewisse technische Details angepasst. Auch konnten wir den Ausdruck des Stuhls vertiefen, indem wir seine Materialien, die Farbigkeit und seine Kombinationsmöglichkeiten verfeinert haben. Dafür war ich mit einer Textildesignerin im Austausch, die sich bei Magis übergeordnet um die Stoffe kümmert.

Der Stuhl Twain hat etwas ungewohnt Nostalgisches.

Das sehe ich ganz anders. Nostalgie ist ein Begriff, mit dem ich gar nichts anfangen kann. Sie entspricht mir nicht, ich finde sie uninteressant.

Warum das?

Es ist mir zu einfach, in einem Gefühl zu schwelgen: Ach, da war etwas, das so schön war, dass man es eigentlich erhalten oder dahin zurückgehen möchte. Voranzugehen braucht durchaus auch das Wissen über Dinge, die es schon mal gab. Die Designgeschichte, die Kunstgeschichte, die Kulturgeschichte sind für mich essenziell. Ich beziehe mich sehr oft darauf. So funktioniert Design. Es hat nichts mit Erfinden zu tun, eher mit Finden. Und dieses Finden ist ein Verknüpfen von Dingen, die man aus unterschiedlichen Quellen zusammenbringt, mit dem Bezug auf eine Vergangenheit, aber auch gepaart mit neuen Möglichkeiten, mit einer eigenen Sicht, mit dem Reagieren auf bestimmte Strömungen, einen Zeitgeist. Der Designprozess hat viele Facetten.

Sie haben einmal gesagt, «der Entwurf ist ein befreiender und bewusster Akt der Intelligenz». Das würde doch das Intuitive ausklammern?

Nein, gar nicht. Intelligenz ist zwar geschult, hat aber viel mit Intuition zu tun. Und die Intuition besteht aus Erfahrungen, aus Abgespeichertem. An dieser Stelle müssen wir auch über die künstliche Intelligenz sprechen. Denn was künstliche Intelligenz überhaupt nicht hat, ist Intuition. Man kann sie für viele Dinge einsetzen, aber nicht für alles. Der Stuhl Déjà-vu von Naoto Fukasawa, auf dem wir gerade sitzen, vereint rationale und analytische Elemente, aber es spielt auch dieses Intuitive mit, und das macht ihn zu dem, was er ist. Das kann künstliche Intelligenz nicht und wird es wohl auch in Zukunft nicht schaffen.

Wie sehr beschäftigen Sie sich mit den neuen Entwurfstools?

Wir sind am Ausprobieren. Ich bin total offen und neugierig. Künstliche Intelligenz ist ein unglaublich spannendes, wenn auch gefährliches Werkzeug. Wir haben zum Beispiel für den Messestand von Mattiazzi, gleich hier in der Nachbarschaft, Bilder mit künstlicher Intelligenz gemalt. Wenn man davorsteht, merkt man das nicht. Nun bin ich kein Künstler, aber ich konnte die künstliche Intelligenz speisen und auf eine gewisse Fährte setzen. So hat sie mir tatsächlich geholfen, das zu erschaffen, was ich mir vorgestellt hatte. Genauso könnte mir die künstliche Intelligenz beim Entwurf eines Stuhls helfen. Aber man kann nicht auf den Knopf drücken und glauben, es werde perfekt. Vieles geht nicht, das versteht man relativ schnell. Man lernt auch, wie man mit diesen Werkzeugen umgehen muss, damit sie bestimmte Aufgaben erfüllen.

Wie haben die Themen Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft den Designprozess verändert?

Genau daher kommt ja das Interesse an historischen, einfachen Konzepten, die mit minimalem Einsatz ganz viel schaffen. Womit wir wieder bei Twain sind. Er benötigt wenig Material, wenig Technologie und ist doch ein vollwertiger Stuhl, bequem und leicht zugleich. Seine Holzstruktur ist nur gesteckt, ein Gurt hält sie unter Spannung zusammen. Alles lässt sich komplett zerlegen und in einer relativ kleinen Schachtel verstauen. Natürlich kann man die Komponenten auch trennen und recyceln.

Sind diese Entwürfe Auftragsarbeiten, oder stellen Sie Ihre eigenen Ideen dar?

Es ist nicht so, dass ich in meinem Büro sitze und warte, bis Magis anruft oder mir ein Briefing schickt. Es hat etwas mit den Beziehungen zu tun, die man zu Firmen hat und die manchmal auch zu Freundschaften führen. Sie entwickeln sich aus einem gegenseitigen Interesse für eine Sache. Man ist auf der Suche, und man merkt, dass man sich im Dialog gegenseitig befruchtet. Gemeinsam lässt sich etwas erschaffen, das grösser ist als das, was man alleine machen könnte. Im Grunde ist alles ständig in einem Fluss, der einen immer wieder auf neue Ideen bringt. Einer stösst etwas an, der andere wirft den Ball zurück.

Sie sind jetzt seit dreissig Jahren im Geschäft. Welche Themen bleiben reizvoll?

Mich interessiert noch immer die Welt der Möbel, ein Kulturgut, das eng mit unserem Leben verknüpft ist. Und dabei insbesondere Stühle – für mich die spannendsten Möbelstücke. Ein Stuhl erfüllt ja nicht einfach eine Funktion – die, dass man darauf sitzen kann –, er wird Teil von einem. Wie ein Kleidungsstück oder ein Löffel, den man in den Mund nimmt. So etwas passiert mit ganz wenigen Dingen. Und dann gibt es noch die ganze Industrie, die dahintersteht, auch sie ist inspirie- rend, und natürlich eine nach vorne gerichtete Idee. Wie bringt man all das weiter? Wie gestaltet man die Zukunft mit, für die man eine Verantwortung trägt?

Welche Ziele hatten Sie, als Sie Mitte der 1980er-Jahre am Parnham College von John Makepeace in Dorset das Schreinerhandwerk erlernten?

Damals waren meine Vorbilder historische Dinge und Stilrichtungen: Thonet, das Bauhaus, die Nachkriegsära in Italien. Es wurde nicht über Nachhaltigkeit gesprochen, wie wir das heute tun. Es gab wenig Technologie, wenige Materialien und ganz unterschiedliche Motive. Aber das Gefühl, dass gutes Design eine Effizienz hat, war immer da. Wobei das jetzt fast zu logisch und zu kühl klingt und den Aspekt der Intuition, dieses Romantische auslässt. Nicht die Nostalgie, aber die Romantik und das Sinnliche sind sehr wichtig im Design – in allen Kulturen und Jahrhunderten. Was überlebt hat, sind Dinge, die klar, einfach, schön und brauchbar sind. Eigentlich arbeiten wir noch genauso. Nur gibt es heute andere Vokabeln, oder wir haben ein anderes Bewusstsein für das, was wir tun.

Zum Beispiel?

Es gibt das Marketing, das die Produkte einordnet. Es gibt eine kommerzielle Welt, in der wir arbeiten und zu der auch ich gehöre. Das müssen wir gar nicht verschweigen. Ich habe mich lange Zeit Industriedesigner genannt, eine Berufsbezeichnung, die sich ja gerade zu diesem Aspekt bekennt. Ich bin kein Künstler, ich mache das nicht nur aus Gründen der Selbstverwirklichung. Dann das grosse Thema Nachhaltigkeit, das Problem des Klimawandels. Dafür gibt es nicht die eine Lösung, sondern ganz viele. Wir alle müssen die Veränderung in Gang bringen, immer wieder einfordern und anregen.

2018 haben Sie den gusseisernen Sessel Brut entworfen. Würden Sie das heute auch noch machen?

Ja, doch. Eisenguss benötigt allerdings viel Energie. Man müsste die Analyse machen: Wie steht der Energieaufwand, das Eisen zu schmelzen und zu giessen, im Verhältnis dazu, dass das Gestell theoretisch die nächsten 500 Jahre benutzt werden könnte. Das kann sehr nachhaltig sein.

Der Chair One ist jetzt über zwanzig Jahre alt und heute eine Design-Ikone. Blicken Sie für uns zurück!

Der Stuhl ist natürlich in einer ganz anderen Zeit entstanden. Ich war jung und naiv, habe viele Fragen nicht gestellt, doch hatte gleichzeitig – hier ist wieder dieses Wort – Intuition. Diesen Instinkt könnte ich heute viel reflektierter belegen. Damals war es eher so ein Gefühl. Der Stuhl war radikal, weil er auf das Allerallernötigste heruntergebrochen ist. Viele sagten: «Der ist noch nicht fertig», oder: «Darauf kann man ja gar nicht sitzen.» Ich glaube, ich könnte den Stuhl heute nicht mehr so entwerfen. Nach dreissig Jahren Berufserfahrung kommt eine Reife, um nicht zu sagen Weisheit hinzu. Aber es geht auch etwas verloren: das Jugendliche, das Unbekümmerte, das Etwas-zum-ersten-Mal-Machen.

Nach Ihrem Designstudium am Royal College of Art in London kamen Sie 1991 nach München zurück und eröffneten Ihr erstes eigenes Büro. Woher nahmen Sie den Mut?

Ich war überzeugt. Die Frage «Schaffe ich das?» stellte sich gar nicht. Ich wollte einfach selbstständig arbeiten, meine eigenen Sachen machen. Ich hatte einen Schreibtisch in einem Architekturbüro von Freunden, es gab ein Faxgerät und ein Telefon. Dann musste ich noch die Miete für meine Wohngemeinschaft verdienen und das Essen finanzieren. Zusammen etwa tausend D-Mark im Monat. Da war so eine Kompassnadel, die irgendwo hingezeigt hat, und ich habe mich auf den Weg begeben. Das war erst mal einfach. Aber es gab auch viele Krisen, bis heute. Die Richtung im Auge zu behalten und die eigene Praxis, die Arbeit, die Erwartungen, die Ansprüche ständig neu zu justieren, das sind die Herausforderungen. Mein Leben hat eine gewisse Linie, aber es verläuft nicht gerade. Ich bin kein strategischer Mensch.

Welche Prinzipien haben Sie sich über all die Jahre erhalten?

Ehrlichkeit, gegenüber mir selbst, aber auch in allem, was ich tue. Ich glaube, das ist das Allerwichtigste.

Inzwischen zählen Sie zu den bedeutendsten Gestaltern unserer Zeit. Lebt man mit diesem Bewusstsein?

Nein. Manchmal bekommt man den Spiegel vorgehalten, dann freut und ermutigt es einen. Egal ob Bestätigung oder Kritik. Beides ist wichtig. Es hilft, sich selbst zu verstehen und sich einzuordnen.

Was ist der Antrieb, beständig weiterzumachen?

Die Neugier und die Kreativität. Es macht einfach Spass.

Inzwischen nimmt die Entwicklung von Ausstellungskonzepten für Galerien und Museen einen grossen Teil Ihrer Arbeit ein. Was reizt Sie daran?

Dinge zu entdecken, die ich nicht kenne. Diese Projekte geben mir auch eine Möglichkeit, Abstand von der kommerziellen Welt zu bekommen, die ich manchmal auch anstrengend finde. Weil ich die Lust daran nicht verlieren möchte, muss ich immer mal weg. Man kennt das ja: Man verreist und kommt wieder, und plötzlich sieht alles ganz anders aus. Der Mensch braucht diese Bewegung, dann sieht er die Dinge wieder frischer, klarer.

Was erwartet die Besucher im Musée du Luxembourg, wo Sie diesen Sommer eine Ausstellung zu den Olympischen Spielen in Paris zeigen?

Ich biete ihnen eine sehr breite Perspektive darauf, was die Beziehung zwischen Design und Sport ausmacht. Das grosse Narrativ, das sich mir selbst erst während der Arbeit an der Ausstellung erschlossen hat, ist der Wandel vom physischen Design hin zu einem immateriellen, digitalen Design. Klar steht der Mensch im Zentrum. Aber früher ging es um den besten Schuh, den schnellsten Ski, den sichersten Helm. Heute sammelt man Daten über den eigenen Körper, analysiert und vergleicht sie. Man verbessert seine Technik, stellt einen Trainingsplan auf, kontrolliert das Essen, den Schlaf usw. Das Gold sind die Daten und nicht mehr die beste Karbonfaser. Natürlich sieht man in der Ausstellung auch tolle Sneakers oder das schnellste Motorrad der Welt, aber die Herausforderung war, diese andere, nicht greifbare Seite darzustellen. Der Sport dient so als Metapher für unser gesamtes Leben. Daten, Algorithmen und künstliche Intelligenz werden immer wichtiger.

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