Eine Ausstellung über die Entwicklung der Männermode

Mannsbilder

Die Zukunft der Männermode ist genderfluid. So zumindest will es die neue Generation. Eine Ausstellung im Victoria and Albert Museum in London liefert den historischen Rahmen dazu.

Ausstellung Männermode

Die Männermode ist reif fürs Museum. Mit «Fashioning Masculinities: The Art of Menswear» eröffnete am 19. März 2022 im Londoner Victoria and Albert Museum eine Ausstellung, die sich «der Macht, Kunstfertigkeit und Vielfalt der männlichen Garderobe und des maskulinen Erscheinungsbildes» widmet. «Die Männermode erlebt derzeit eine Periode beispielloser Kreativität», erklären die Kuratorinnen Claire Wilcox und Rosalind McKever. «Sie ist seit Langem ein wirkungsvolles Instrument, um Konformität zu fördern oder Individualität zum Ausdruck zu bringen.»

Eine Ausstellung, die reflektieren soll, was im echten Leben schon länger passiert. Wo Subkulturen, Nonkonformismus und Diversität die Trends setzen. Wo Männer nicht mehr viel von einer korrekt gebundenen Krawatte halten, sich nicht mehr fragen, welche Knöpfe man bei einem Zwei- und welche bei einem Einreiher geschlossen trägt. Hier verkauft die Streetwear längst den athletischen, uniformen Typus des coolen Skaters, der in seiner erwachsenen Version statt des Skateboards die Aktentasche unter den Arm klemmt.

Als Messias im Adressieren dieses Mannes gilt der Amerikaner Virgil Abloh, der Ende letzten Jahres unverhofft an Krebs verstorben ist. Als Chef seines eigenen Labels Off-White und Menswear-Designer bei Louis Vuitton holte er als einer der Ersten den Stil der Strasse auf den Laufsteg und das Luxuspreisschild auf Jogginghosen, Hoodies und T-Shirts. Die Männer bissen die Zähne zusammen und folgten ihm – und tauschten tapfer ihre Hemden gegen Sweatshirts und rahmengenähte Schuhe gegen Sneakers.

Designer wie Virgil Abloh oder Kim Jones, Menswear-Designer bei Dior, schafften so praktisch über Nacht, was Brands wie Nike, Adidas und Co. während Jahren nicht gelang: eine «Casualisierung» der Businessmode. Zwei Jahre Pandemie und neue hybride Arbeitsmodelle entzogen der formellen Arbeitsbekleidung zusätzlich ihre Raison d’être. Und so hängt inzwischen sogar Boss die Businessanzüge an den Nagel und versendet stattdessen gebrandete Hoodies an Instagram- und Tiktok-Influencer. Und der Herrenschneider Ermenegildo Zegna kollaboriert stolz mit der amerikanischen Streetwear-Marke Fear of God. Wenn Schneidertradition auf coole Casualness trifft – die Win-win-Kombination der Gegenwart.

Und doch, mit Streetwear rebelliert heute keiner mehr. Die neue Modemaxime lautet: Alles geht – solange es die eigene Gefühlslage und den eigenen Lebensentwurf verdeutlicht. Rüschenhemden zu hoch geschnittenen Schlaghosen, weich konstruierte Anzüge mit All-over-Palmenprint, gestreifte Tuniken, pastellfarbene Jogginghosen mit gleichfarbigem Hoodie: alles längst State of the Art. Gesellschaftliche Normen, die vorschreiben, wer Nagellack oder Schluppenbluse tragen darf, sind so obsolet wie die Frage nach dem biologischen Geschlecht. Hätte Mann für vieles noch unlängst einen Fingerzeig kassiert, hat er in Zeiten von Diversity und LGBTQIA+ für seinen flamboyanten Stil die gesellschaftliche Erlaubnis – ja geradezu einen kulturellen Auftrag.

Von den historisch gewachsenen Vorstellungen von Maskulinität verabschieden sich aktuell viele Designer. Einer, der es besonders erfolgreich tut, ist Alessandro Michele. Seitdem der Italiener 2015 den Posten des Gucci-Chefdesigners übernommen hat, erregt er mit seinen eklektischen Männerlooks mit Rüschenblusen und Brokatanzügen die Gemüter. Michele geht es um Sinnlichkeit, um Emotionen – und um eine Grundhaltung. «Ich wollte eine Lebenseinstellung interpretieren, keine Silhouette. Aus einem Blickwinkel, der die Grenzen zwischen männlich und weiblich verschwimmen lässt und die jugendliche Energie heutiger Grossstädte einfängt.» Alessandro Micheles bunte Garderobe – ein Mix aus Vintage-inspirierten Stücken, die von Models mit verwirrend geschlechtsloser Ausstrahlung vorgeführt werden – fordert auf, selbst zu wählen, wer man ist, unabhängig vom sozialen Umfeld, in dem man aufgewachsen ist.

Mit ähnlichen Absichten entwirft der junge Harris Reed. Halb Brite, halb Amerikaner, wuchs der Designer mit einem starken Sinn seiner selbst auf. Bereits in jungen Jahren begriff er die transformative Macht von Kleidern und ihre Beziehung zu Identität und Befreiung. Reeds Kreationen, die er oftmals an sich selber präsentiert, sind eine Hommage an den Glamrock der Siebzigerjahre, die mit Elementen wie Puffärmeln und Spitzenjabots gleichzeitig an historische Porträts vergangener Jahrhunderte erinnern. Reeds Vision ist klar: Seine Mode soll einen Diskurs über die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft entzünden. Sie soll für Gender-Fluidität und Inklusivität einstehen.

Die Feminisierung der Männermode findet indes auch auf einer anderen Ebene statt. Es sind nämlich nicht Designer, sondern vor allem junge Designerinnen, die gerade die Zukunft der Männermode entwerfen und die maskuline Garderobe neu definieren. Emily Adams Bode ist eine davon. In ihren Kollektionen vereint die Amerikanerin typisch weibliche Handwerkstraditionen wie das Quilten mit typisch männlichen Kleidungsstücken wie Uniformen und Arbeitsbekleidung. Jedes Stück ist massgeschneidert, erzählt so seine eigene Geschichte – und gibt Männern die Möglichkeit, sich auf eine weniger einengende, weniger uniforme Art mit sich selbst und dem eigenen Körper in Beziehung zu setzen. Gefeiert wird auch die Britin Martine Rose. Authentisch und am Puls der Zeit, umweht ihre Kollektionen stets ein Hauch Underground. «Männermode war früher etwas für Outsider, sie war etwas Besonderes. Nun ist sie eine Milliarden-Industrie. Ich war nie Mainstream. Es fühlt sich komisch an, jetzt plötzlich Teil davon zu sein», sagt sie über ihren unverhofften Erfolg. Für die breite Masse sind ihre wilden Club-Outfits und Tongue-in-cheek-Drucke wohl dennoch nicht.

Zu den aufregendsten Talenten in Sachen Männermode zählt auch die Britin Grace Wales Bonner. Ihre innovativen Entwürfe setzen auf meisterhaftes Tailoring und intelligente kulturelle Referenzen. Oftmals ist ihre Kleidung ein Realität gewordener Diskurs über ihr eigenes jamaikanisches Erbe und die afrikanische Diaspora. Dabei ist Wales Bonners Interpretation schwarzer Männlichkeit diametral anders als diejenige der typischen Popkultur-, Hip-Hop- und Rap-Stereotypen. Ihrem Männerbild wohnt eine Zartheit, beinahe Entrücktheit inne, die sich über feingliedrige Models ausdrückt, die man eher auf Vernissagen als auf dem Basketballfeld vermutet. Ihre Kleidung? Detailverliebt, genderfluid, mit Sportswear-Referenzen durchwoben und Retro-Elementen veredelt. «Im Moment musst du einen Sinn, eine Bedeutung haben, um zu bestehen», meint Wales Bonner. «Deine Designs müssen für etwas sehr Starkes stehen, visuell und kulturell.» Trotz der radikalen Neudefinition von Männermode werden für die Nachwuchsdesignerin Tailoring und Tradition nicht an Bedeutung verlieren. Es bleibe wichtig, sich mit der langen Historie der Männermode und -bekleidung in Relation zu setzen. Worüber sie in letzter Zeit intensiv nachdenke, seien Empfindungen und Gefühle und wie Stoffe diese widerspiegeln können. Über Kleider kommuniziert man halt, ob man nun will oder nicht.

Die Männermode, so sieht es aus, ist ein grosser Verkleidungsfundus geworden, aus dem sich jeder für sein eigenes Image und seine eigene Identität bedient – sei es für Instagram, Tiktok oder die reale Welt. Sich als Mann für Kleider zu interessieren, ist nicht mehr suspekt. Denn am Ende des Tages geht es nicht um Mode, sondern um den Selbstentwurf. Neue Rollenmodelle machen es vor. Harry Styles etwa – laut «GQ» der bestangezogene Musiker der Welt –, der schon mal in quietschentengelben oder rosafarbenen Frauenhosenanzügen und Federboa auf der Bühne steht. Oder sich in einem Krinolinenrock für die amerikanische «Vogue» ablichten lässt. «Ich ertappe mich dabei, Frauenkleider anzuschauen und zu denken, wie grossartig sie sind», sagt er. Und selbst wenn auch im Jahr 2022 nur die wenigsten Männer derart furchtlos und unerschrocken mit Mode experimentieren wie der 28-jährige Brite, ist er dennoch der schillernde Beweis dafür, dass ein selbstbewusster Mann heute mit seiner femininen Seite im Reinen sein darf. Und Nagellack, Glitzer, Perlenketten und Pastellfarben nicht länger zu scheuen braucht.

«Kleider sind dazu da, Spass zu haben, zu experimentieren und zu spielen.» – Harry Styles, Sänger

Die Mode wird von vielen Seiten neu gedacht. So edel die Motive, welche die Männermode aus ihrem starren Korsett befreien wollen, auch sind, bleibt es letztlich doch simpel: «Wenn du etwas anhast, in dem du dich grossartig fühlst, ist das wie ein Superheldenoutfit», erklärt Harry Styles. «Kleider sind dazu da, Spass zu haben, zu experimentieren und zu spielen. (…) Wenn man die Vorstellung aufgibt, dass es Kleider für Männer und Kleider für Frauen gibt, öffnet sich eine ganz neue Arena, in der du spielen kannst.»

Info:

«Fashioning Masculinities: The Art of Menswear», Victoria and Albert Museum, London, bis 6. November 2022. Mehr Infos findest du hier.

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