Julia Heuer öffnet die Türen zu ihrem Pariser Atelier

Reiz und Romanze

In Julia Heuers Mode trifft Marie–Antoinette auf«The Virgin Suicides», Prince auf «The Piña Colada Song». Das Ergebnis ist eklektisch— aber ja nicht zu schön.

Werkstätte

Julia Heuers berufliche Höhepunkte hören sich so an wie diejenigen einer erfolgreichen Schweizer Designerin: Erster Job beim renommierten St. Galler Textilunternehmen Jakob Schlaepfer. Gewinn des Design Preis Schweiz im Jahr 2015. Mehrere Laufstegschauen im Rahmen der Mode Suisse, der wichtigsten Fashionplattform des Landes. Die frühe Aufnahme ins Sortiment der Luxusboutique Tasoni, ansässig in Zürich und Andermatt. Und demnächst eine Capsule-Collection mit dem jungen Brand 079, für den sie sechs exklusive Silhouetten kreiert hat. «Mit der Schweiz fühle ich mich auch deshalb so verbunden, weil ich von ihr schon von Anfang an grosse Unterstützung bekam», so Heuer, die heute in Paris lebt und arbeitet. Die Designlandschaft Schweiz würde sich noch so gern mit Heuer als Aushängeschild schmücken. Doch ganz stimmen tuts dann eben doch nicht: Heuer ist auf dem Papier Deutsche – geboren und aufgewachsen in Rottweil im Schwarzwald.

So viel traditionelles Handwerk in den Kreationen der 42-Jährigen steckt – Heuers Signature-Look sind von Hand plissierte, digital bedruckte Kleider –, so extravagant und auffällig ist deren Ausstrahlung. Sich ihre Entwürfe nur für spezielle Anlässe aufzusparen, wäre aber so gar nicht im Sinne der Designerin, die wir in ihrem Atelier im 20. Arrondissement zum Interview treffen. Im Gegenteil: Heuers Mode soll dank leichten Stoffen, Unverformbarkeit und Komfort nach purem Lustprinzip getragen werden. Wie man einen skulpturalen Babydoll-Dress alltagstauglich macht, zeigt sie uns gleich selbst: Unter XL-Ärmeln trägt sie ein neongrünes Hemd, am Fuss lässige Lederstiefel. Es ist ein Modemut, der Spass macht – und irgendwie doch ganz unschweizerisch ist.

BOLERO Wer oder was hat Sie in der Art, wie Sie entwerfen und wie Ihre Kleider aussehen, am meisten beeinflusst?

JULIA HEUER Meine erste grosse Prägung fand ganz klar an der Kunstschule in Stuttgart statt, wo ich Textilgestaltung studierte. Der freie, künstlerische Einfluss war für mich damals enorm, und ich wollte so viel Kreatives absorbieren wie nur möglich. Ich hatte allerdings immer mehr in die Kunstwelt geblickt als in die Mode und mich eher für freie Kunst, skulpturale Arbeiten und Kostüm interessiert. Während eines Auslandssemesters in Dänemark habe ich dann die Shibori-Technik kennengelernt, auf der fast alle meiner Designs heute basieren.

Shibori beschreibt die japanische Färbe- und Plissiertechnik, bei der Stoff um einen Zylinder gewickelt und jeder Zentimeter mit einem Faden abgebunden wird. Was hat Sie an dieser Methode so fasziniert?

Es war nicht in erster Linie die Technik, sondern die Tatsache, dass ich mit einer relativ einfach Art einem Material einen ganz neuen Twist geben konnte. Das lag mir irgendwie schon immer. Die Lehrer dort zeigten uns damals einfach ein paar verschiedene Macharten, und weil ich kein Geld hatte, strickte ich die Grundware – ein Gemisch aus Polyester und Baumwollstreifen – einfach selbst. Ich wurde dann sehr schnell dazu ermutigt, mit meiner Praxis weiterzumachen. Dieses schnelle, gute Feedback ist auf Kunstschulen nicht selbstverständlich. Umso mehr freute es mich, zu erkennen, dass ich auf dem richtigen Weg war.

Ihr erster Job in der Modeindustrie war beim renommierten St. Galler Textilunternehmen Jakob Schlaepfer, das Stoffe für namhafte, internationale Couture-Designer anfertigt. Was nahmen Sie aus dieser Zeit mit?

Sie war fantastisch. Die Arbeit bei Jakob Schlaepfer war eine Art zweite Ausbildung – ich lernte hier das Handwerk des Printdesigns und konnte mein künstlerisches Know-how mit dem Digitaldruck zusammenbringen. Martin Leuthold, der damalige Kreativdirektor der Firma, hat mich später auch sehr bei meiner Teilnahme beim Design Preis Schweiz unterstützt. Ich durfte meine Stoffe bei ihm drucken, wofür ich sehr dankbar bin.

Ihre Silhouetten sind oftmals gross und voluminös, die Stoffe aber wiederum federleicht. Welchen Anspruch haben Sie an ein Kleidungsstück?

Mich fasziniert die Schnittstelle von extravagant und easy – auffällige Pieces mit einer extremen Lässigkeit zu tragen. Das setzt einen gewissen Komfort, eine Leichtigkeit und Tragbarkeit voraus. Die Trägerin soll nicht ständig an der Kleidung rumzupfen und sich fragen müssen, ob das Teil noch sitzt. Man soll sich auch ohne speziellen Anlass selbstbestimmt für ein Kleidungsstück entscheiden können. In meiner Mode soll man sich stark, aber doch sensibel und ultimativ wohlfühlen.

Designen Sie in erster Linie für sich selbst?

Ich glaube, mein Team und ich repräsentieren unsere Kundschaft relativ gut. Es gibt Prints und Silhoutten, die eher für eine ältere Zielgruppe sind, andere sprechen eine jüngere an. Grundsätzlich wollen wir die Bandbreite aber so gross wie möglich halten. Wir fragen uns deshalb immer: «Würden wir das auch tragen wollen?»

Die Basis Ihrer Designs bilden neben der speziellen Plissiertechnik die selbst bedruckten Stoffe. Wo startet für Sie der Kreationsprozess einer neuen Kollektion?

Ich fange eigentlich immer mit intuitiver Motivrecherche an. Wo zieht es mich hin, welche Themen interessieren mich gerade? Meine aktuelle Kollektion ist zum Beispiel inspiriert von Keramikmalereien, die ich in einer Ausstellung im Pariser Art-Space Lafayette Anticipations gesehen habe. Dazu kam ein bisschen Storytelling: Marie-Antoinette, «The Virgin Suicides» oder aber das Bild einer riesengrossen Picknickdecke, auf die Blütenblätter gefallen sind. Angelehnt daran, spielte ich dann etwa mit Karomustern oder dem Effekt von einer Plastikschicht, die man bei Regen auf diese Decke legen würde. Solche Ideen sind mein Ausgangspunkt. Zeitgleich arbeitet mein Team an Volumen und Silhouetten.

Wie viel geschieht im Prozess digital, was analog?

Der händische Prozess macht einen grossen Teil meiner Kreation aus. Ich habe ein grosses Archiv an Malereien, Fotos, Buchscans oder Materialien, an denen ich mich immer wieder bediene. Gerade fange ich zum Beispiel an, Spitze zu besprühen und das, was zurückbleibt, einzuscannen. Ich arbeite oft collagenhaft und werfe alles übereinander, wo ich das Gefühl habe, es könnte relevant sein oder gut miteinander funktionieren. Es ist ein chaotischer Prozess. Mit den verschiedenen Prints, an denen ich gleichzeitig arbeite, gehe ich dann in die Farbgestaltung. Aus fünf bis zehn Kolorits wählen wir am Ende an der Büste aus, welches am besten funktioniert.

In Ihrer Designsprache, aber auch in Lookbooks und Kampagnen brechen Sie bewusst mit konventioneller Romantik. Sie verzerren etwa die Gesichter Ihrer Models oder wählen bizarre Settings und Styling-Elemente. Was ist Ihre Vorstellung von Schönheit?

Der Moment, in dem man etwas wirklich und harmonisch Schönes kreiert, hat eigentlich etwas Magisches. Und ich glaube, dass viele nach dieser Zeit, in der modisch alles sehr ironisch angehaucht war, wieder vermehrt Lust auf gekonnt Schönes haben. Persönlich mag ich es dennoch, wenn etwas nicht ganz makellos ist. Mich interessieren Momente einer gewissen Störung, wo man hängen bleibt, noch einmal darüber nachdenken oder einfach lachen muss.

Ihre Mode begeistert mitunter viele kreativ schaffende Frauen: Björk trug Ihre Kleider auf Tour, die New Yorker Foodkünstlerin Laila Gohar stylte kürzlich eines Ihrer Babydolls zu einem Longsleeve. Können Sie ein Profil Ihrer Kundin ausmachen?

Die stärksten Märkte sind für mich die USA und Asien. Unsere Kundschaft reicht von sehr jung bis sehr alt, was ich schön finde. Es sind Businessfrauen aller Art, von denen einige einem visuellen oder kulturellen Sektor zuzuordnen sind. Ihnen ist gemeinsam, dass sie unabhängig und stark sind und gern etwas Ausdrucksvolles mit einem speziellen Touch tragen.

Und sie alle haben keine Angst davor, aufzufallen.

Ja, aber in meiner Mode geht es trotzdem immer um eine gewisse Selbstverständlichkeit und eben um Komfort. Meine Kundin sucht nicht primär das Extreme.

Im Vergleich zu anderen jungen Marken, die von Beginn an von Hypes, Reichweite oder finanziellem Investment profitieren, haben Sie Ihre langsam und eigenständig etabliert. Wie haben Sie Ihren Kundenstamm aufgebaut?

Mit harter Arbeit. Ich glaube, daran führt nichts vorbei. Durch den Gewinn des Design Preis Schweiz sowie meine Teilnahme am internationalen Showroom der Mode Suisse hatte ich das Glück, sehr schnell Käuferinnen gefunden zu haben. Das war bemerkenswert und überhaupt nicht selbstverständlich. Dieser anfängliche Support war sehr wichtig und mitunter auch ein Grund, weshalb ich mich mit der Schweiz sehr verbunden fühle. In Momenten des Zweifels ist es wertvoll, zu merken, dass Interesse am Brand vorhanden ist. Das kreiert eine gewisse Energie. Wiederum hat mir das langsame Wachstum ermöglicht, das Business im Hintergrund entsprechend aufzubauen.

Wie haben Sie sich diese unternehmerische Kompetenz angeeignet?

Mit «learning by doing». Als Designer weiss man ja grundsätzlich gar nicht, was da auf einen zukommt. Ich habe ein paar Businessbücher gelesen, mich viel mit meinem Bruder sowie mit meinem früheren Partner ausgetauscht. Ein eigener Brand nimmt ohnehin auch im Umfeld sehr viel Raum ein.

BOLERO Warum ist Paris für Sie das bessere Pflaster als die Schweiz?

JULIA HEUER Ich bin nicht primär wegen des Labels hierhergezogen, beziehungsweise diese Entscheidung hat sich nie so dauerhaft angefühlt. Was in Paris aber wirklich gut funktioniert, ist die Infrastruktur. Hier gibt es einfach ein grosses Netz an Leuten, die in der Mode arbeiten, vom Praktikanten über Designer bis hin zu Fotografen, Models und Lieferanten. Diese grosse Dynamik ist für mich sehr hilfreich.

Sie produzieren jedes Shibori-Stück von Hand in Ihrer eigens aufgebauten Produktion in Estland in limitierter Auflage. Haben Sie bei der Produktion einen Wertekompass?

Wir haben einen hohen Qualitätsanspruch an unsere Produkte. Die Stoffe müssen qualitativ hochwertig sein und meinen Textilbackground widerspiegeln. Da ich aus einem künstlerischen, handwerklichen Bereich komme, ist es mir wahnsinnig wichtig, dass man diese Qualität spürt und fühlt. Das bringt mit sich, dass wir nur in relativ kleinem Rahmen produzieren können.

Vergleichen Sie sich auch mal mit dem Wachstum und den Möglichkeiten von anderen jungen Modemarken?

Es gibt ein paar unabhängige Labels, die ich mit Neugier verfolge – zum Beispiel Kepler aus London oder die Peruanerin Mozhdeh Matin, die soeben eine Interior-Linie lancierte. Das finde ich inspirierender und interessanter, als mich an grossen Brands zu orientieren, die unendlich Geld haben. Einen Vergleich würde ich es aber nicht nennen. Die Strukturen und das Produkt sind anders.

Hat sich die übermässige Konsumkultur in Ihren Augen auf das Verständnis und die Wertschätzung von handwerklich geprägten Brands ausgewirkt?

Das Handwerk war in den letzten Jahren vielleicht weniger relevant. Es ging viel eher um die Oberfläche, das Styling und die Reichweite – und weniger um die Tiefe. Der Wandel davon weg hat für mich aber schon begonnen. Jetzt, wo Luxus für alle zugänglich ist, wird es wieder wichtiger, wofür ein Brand eigentlich steht, welches Universum einem da verkauft wird. Geht es um die Machart? Um moralisch-ethische Qualitäten und Werte? Eine Community? Der Konsument will wissen, in welche Welt er eintritt. Handwerk ist da etwas Echtes, Reales. Danach spüre ich eine Sehnsucht.

BOLERO Macht das Wachstum es schwieriger, diese Qualitäten zu bewahren?

JULIA HEUER Ja und nein. Natürlich hat man mehr finanzielle Mittel. Gleichzeitig gibt es den Aspekt der Realisierbarkeit – und diese ist oft kleiner, je grösser die Dimensionen sind. Es muss aber auch nicht jedes Produkt gleich zugänglich sein. Man kann auch mit limitierten Editionen arbeiten, die dann besonders aufwendig hergestellt sind. Es kommt immer darauf an, wie man die Dinge löst.

Auf welche Errungenschaft sind Sie am meisten stolz?

Darauf, so ein schönes Team aufgebaut zu haben. Es sind tolle Menschen, die gern zur Arbeit kommen und sich gut verstehen. Es fühlt sich so an, als hätte ich einen Ort kreiert, der ein frohes, sinnvolles Gefühl vermittelt. Aber natürlich freue ich mich auch, wenn eine Kundin sagt, sie fühle sich immer so gut in einem Kleid von uns.

Wie überbrücken Sie Momente der Unsicherheit oder des Zweifels?

Mit Schlafen (lacht)! Wenn ich einen ganz schlechten Tag habe, sage ich mir: «Jetzt geh einfach mal ins Bett, bring den Tag zu Ende, schlaf gut – und dann sieht die Welt morgen schon wieder anders aus.» In diesen Momenten bin ich auch froh, dass ich meine Tochter habe. Aber ich muss schon ständig stark sein, kann mich nicht oft gehen lassen oder Schwäche zeigen. Als Designerin wird einem vieles abverlangt. Diese Power, eine Urkraft sozusagen, muss man von Grund auf mitbringen. In einen eigenen Brand fliesst ein wahnsinniges Commitment – von mir wie von meinem Team, das so viel Energie und Liebe in die Arbeit steckt. Aber auch von meinem Supportsystem und privaten Umfeld, das eine grosse Portion mitträgt. Ehrlicherweise dreht sich auch da seit Jahren alles um diesen Brand.

Trotzdem ist bei Ihnen ein Selbstverständnis spürbar, immer weiterzumachen. Können Sie sich überhaupt vorstellen, je etwas anderes zu tun?

Gerade nicht. Gleichzeitig muss ich sagen: Es gab in meinem Leben schon mehrere Momente, wo die Dinge ganz anders kamen, als ich sie mir ausgemalt habe. Da habe ich gemerkt, dass das Leben nicht linear verläuft, dass es nicht vorhersehbar ist, dass es Unerwartetes bringt. Ich bewahre mir deswegen die Offenheit, zu sagen: Wer weiss, was noch kommt!

Die Capsule Collection «Julia Heuer x 079» ist jetzt erhältlich.

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