Emma Lavigne von der Pinault Collection

Kunst, das Echo der Zeit

Zwischen Jimi Hendrix und François Pinault, Minimal Art und politischer Kunst: Emma Lavigne, die Generaldirektorin der Pinault Collection, über den Versuch, mit Kunst das Chaos der Welt zu bannen.

Emma Lavigne

Wer jemals unter der gläsernen Kuppel der Bourse de Commerce, des ehemaligen Getreidemarkts im Herzen von Paris, stand, dem hat sich das verblüffende architektonische Zusammenspiel eingeprägt, nämlich wie das Licht über Tadao Andos makellosen Sichtbeton gleitet, bevor es an den barocken Fresken der Rotunde zu haften scheint. Hier inszeniert François Pinault, Gründer und Ehrenpräsident des Luxuskonglomerats Kering (Gucci, Saint Laurent, Bottega Veneta, Balenciaga, Alexander McQueen), nicht nur seine Sammlung, sondern auch sich selbst – als Maestro der Gegenwartskunst. Der Ort hat sich in kürzester Zeit als Magnet der Pariser Kunstszene etabliert, flankiert von der Punta della Dogana und dem Palazzo Grassi in Venedig, die auch zur Pinault Collection gehören. Sie alle zählen zu den spektakulärsten Schauplätzen für zeitgenössische Kunst.

Doch die eigentliche Dramaturgie trägt die Handschrift von Emma Lavigne. Die 57-jährige Kunsthistorikerin gibt den Takt an, indem sie die Programmierung der drei Häuser in immer neue Richtungen führt. Mit einem feinen Gespür für Verbindungen zwischen Epochen, Disziplinen und Sinnesebenen hat sie sich über zwei Jahrzehnte zu einer der profiliertesten Persönlichkeiten der internationalen Kunstszene entwickelt. Wer ihre Ausstellungen besucht, hört oft nicht nur mit den Augen, sondern sieht auch mit den Ohren: Musik ist für sie kein Beiwerk, sondern ein Resonanzraum für Kunst. An der Cité de la musique in Paris verband sie Jimi Hendrix mit Pierre Boulez, stellte Popikonen wie John Lennon neben Konzeptkünstlerinnen wie Yoko Ono und entwarf Projekte, in denen Klang, Architektur und Körper miteinander in Dialog traten. Am Centre Pompidou in Paris realisierte sie wegweisende Ausstellungen zu Tanz, Film und Installation; als Direktorin des Centre Pompidou-Metz machte sie Ausstellungen politischer und zugleich zugänglicher; und an der Spitze des Palais de Tokyo öffnete sie das Programm noch weiter.

Geboren 1968 in Versailles und geprägt von einem Studium in Kunst, Geschichte und Architektur, gestaltet sie Ausstellungen, in denen Musik, Performance und Tanz in sinnliche Dialoge treten – und ist dabei immer auf der Suche danach, wie Ausstellungen auf unsere chaotische Gegenwart reagieren können.

BOLERO Sie arbeiten eng mit einem der grössten Kunstsammler unserer Zeit zusammen. Wie würden Sie François Pinault als Sammler beschreiben?

Emma Lavigne François Pinault ist ein sehr neugieriger Mann, und er hat ein grossartiges Auge. Bei Studiobesuchen geht er jeweils instinktiv auf die besten Werke zu. Als er zu meiner Ausstellung im Palais de Tokyo mit Anne Imhof kam, war ich beeindruckt, wie schnell und intuitiv er verstand, ohne gross Erklärungen zu brauchen. Und er liebt provokante Positionen. Er ist ein Sammler, der Künstler nicht in einer festen Geschichte einrahmen will.

In den letzten Jahrzehnten sind Kunst und Luxuslabels näher zueinandergerückt. Beeinflusst eigentlich die Nähe zur Mode die Wahrnehmung der Kunst?

Ich verfolge mit grossem Interesse, was Leute wie Anthony Vaccarello, der Kreativdirektor von Saint Laurent, Demna Gvasalia, der soeben von Balenciaga zu Gucci wechselte, oder Louise Trotter, Creative Director bei Bottega Veneta, machen. Vaccarello nutzte sogar die Installation «Clinamen» von Céleste Boursier-Mougenot in der Rotunda für seine letzte Show. Aber kuratorisch trenne ich die beiden Sphären strikt. Mode inspiriert mich: Sie ist der erste Raum, in dem wir uns aufhalten. Kleidung ist eine intime Architektur für den Körper. Die Verbindung zwischen unserem Körper und dem, was uns umgibt, ist spannend.

Die Bourse de Commerce, der Palazzo Grassi und die Punta della Dogana in Venedig sind Pilgerorte der Kunstaficionados – und es sind grossartige Bühnen für François Pinaults Kunst. Was charakterisiert seine Sammlung? Inwiefern ist sie ein Abbild von ihm?

Die Sammlung ist äusserst vielstimmig. Es gibt einen politisch engagierten Strang von Künstlerinnen und Künstlern, die seit den Sechzigerjahren gesellschaftskritisch arbeiten, und einen zweiten, stärker auf Ästhetik ausgerichteten. Diese Seite zeigen wir in der kommenden grossen Minimal-Art-Ausstellung im Herbst.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit jemandem, der genau weiss, was er will?

Es ist ein Dialog. Wir kaufen nichts ohne François Pinaults Zustimmung, aber es ist nie einfach nur ein Abnicken. Ich mache ihm Vorschläge, lerne aber genauso von ihm. Er hat ein enorm feines Gespür für jüngere Künstlergenerationen.

Sie haben früher Ausstellungen zu Jimi Hendrix oder Pink Floyd kuratiert, im Palais de Tokyo mit radikalen Künstlerinnen wie der Performerin Anne Imhof und der Malerin Miriam Cahn gearbeitet. Da schwingt immer auch Politisches und Gesellschaftliches mit.

Für mich war Kunst nie ein isoliertes Gebiet, sondern immer verbunden mit Politik und Gesellschaft. Ich habe an der Sorbonne nicht nur Kunstgeschichte, sondern auch Geschichte und Architektur studiert. Ich ging nach Moskau und lernte Russisch und wollte zunächst Filme machen. Es ging mir stets darum, Brücken zwischen meinen Leidenschaften zu bauen.

Gab es Erlebnisse, die Sie besonders geprägt haben?

Ja, ich erinnere mich noch sehr lebhaft an meinen Besuch in der Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence als kleines Kind. Es war eine unglaubliche Erfahrung, die Werke von Giacometti und Miró zu sehen, aber auch, wie die Kunst mit der Natur, den Springbrunnen und kleinen Wasserbecken rundherum zusammenspielte. Wie sie dort verbunden war mit Klang, Landschaft, Düften und Musik, hat mich und meine Vorstellungskraft tief geprägt. Später hatte die Ausstellung «L’apocalypse joyeuse» am Centre Pompidou 1986 eine starke Wirkung uf mich. Sie behandelte die Kunst-, Musik- und Kulturszene Wiens um 1900. Ich war so begeistert, dass ich die Schule schwänzte und stattdessen meine Zeit dort verbrachte. Es war ein lebendiger Ort, an dem man nicht nur Kunst, sondern auch ein Arnold-Schönberg-Konzert hören oder Theaterstücke von Arthur Schnitzler sehen konnte. Es gab sogar ein Wiener Kaffeehaus, wo man Kaffee mit Schlagsahne trinken konnte. Solche Momente zeigten mir, dass Kunst alle Sinne ansprechen kann.

Sie haben auch an der École du Louvre studiert. War Ihr Weg immer klar?

Ich hatte grossartige Professorinnen und Professoren, aber ehrlich gesagt habe ich auch viel autodidaktisch gelernt: mich interessierten Musik und Tanz genauso wie Kunst. Mein Problem war, all diese Interessen zusammenzubringen.

Später haben Sie an renommierten staatlichen Kultur- und Kunsthäusern wie der Cité de la musique, sechs Jahre im Centre Pompidou in Paris, fünf Jahre in Metz und drei Jahre am Palais de Tokyo gearbeitet. Wie kam es, dass Sie zu François Pinault und seiner privaten Stiftung gewechselt haben?

Ich lernte ihn kennen, als er uns Werke für eine Anne-Imhof-Ausstellung lieh. Wir fanden schnell eine gemeinsame Sprache. Und es interessierte mich, wieder mit einer Sammlung arbeiten zu können und nicht nur Ausstellungen zu programmieren.

Sie erwähnen immer wieder die Wichtigkeit von Klang und Musik für Ihre Arbeit: Was kann Klang, was ein Bild nicht kann?

Klang ist eine ganz andere Dimension der Wahrnehmung. Es gibt ein schönes Zitat vom französischen Schriftsteller Pascal Quignard: «Es stellt sich heraus, dass die Ohren keine Augenlider haben.» Klang ist die vierte Dimension der Kunst, die Emotionen unmittelbar berührt und den Körper mitnimmt auf eine andere Erfahrungseben. Besucher verweilen oft nur Sekunden vor einem Meisterwerk, aber unter dem Eindruck von Klang nehmen sie sich Zeit und denken anders. In meinen Musikprojekten ging es immer darum, Grenzen zwischen populärer und klassischer Musik, auch zwischen Musik und Kunst aufzuheben – Hendrix im Kontext von Boulez oder Pink Floyd im Dialog mit zeitgenössischer Kunst.

Ist Kuratieren für Sie selbst wie Komponieren?

Eine Ausstellung braucht tatsächlich so etwas wie eine Choreografie. Es ist ein Dialog zwischen Werk und Betrachtenden. Ein Beispiel ist das Projekt «Ceremony of Us» der amerikanischen Choreografin Anna Halprin, von dem wir in unserer Ausstellung «Corps et âmes» einen Film zeigen. Halprin hat erstmals schwarze und weisse Tänzer zusammengebracht; es war politisch wie ästhetisch ein Manifest nach den Rassenunruhen 1969. Solche Bezüge zum Zeitgeschehen teilen François Pinault und ich.

Gibt es auch Grenzen dessen, was man in der Bourse de Commerce zeigen kann?

Wir selber setzen uns keinerlei Grenzen. Doch die Sache ist kompliziert: Der gesellschaftliche Ton ist vorsichtiger geworden. Politische Korrektheit kann gefährlich werden, wenn sie künstlerische Visionen glättet. Ich finde es aber sehr wichtig, die Vision der Künstler weiterhin zu zeigen. Wir müssen versuchen, den Blick weit zu halten.

Man kann also bei Ihnen nicht nur Komfortzonen erwarten?

Auf keinen Fall. Aber es geht mir durchaus auch darum, Momente des Innehaltens zu schaffen. Auch Kontemplation muss möglich sein – ich glaube, wir alle spüren es: Es fällt uns heute schwer, zu schlafen und zu träumen. Es muss deshalb beides geben: die Herausforderung und das Innehalten. Kunst und Ausstellungen sind Echokammern unserer Zeit. Wir möchten sie so zeigen, dass sie für alle zugänglich sind – auch für jene ohne direkten Zugang zu dieser Welt.

Können Sie ein Beispiel für eine Ausstellung der kontemplativeren Art nennen?

Die koreanische Künstlerin Kimsooja legte einmal einen ganzen Boden der Rotunda mit Spiegeln aus, die die gesamte Architektur auf den Kopf stellten. Sie schuf einen schwindelerregenden Raum – eine Umkehrung der Welt, in der sich der Himmel unter der gläsernen Kuppel in einen tiefen Abgrund verwandelte. Oder die erwähnte Installation «Clinamen» von Céleste Boursier-Mougenot, die gerade in der Rotunda zu erleben war: Der Künstler setzte ein achtzehn Meter grosses Wasserbecken ein, auf dem weisse Keramikschalen sanft dahintrieben und dabei melodische Klänge erzeugten, die den Raum erfüllten. Das Projekt war so erfolgreich, dass wir beschlossen, regelmässig früher zu öffnen – für eine «Morning Reverie». Solche Arbeiten schaffen Raum zum Träumen und zum Atemholen.

Veranstalten Sie deshalb auch Konzerte und Performances?

Ja. Ich finde, eine Ausstellung muss auch einen Ort zum Durchatmen schaffen. Sie muss Bewusstsein und Hoffnung verbinden. Schönheit und Politik können dabei durchaus auch in Verbindung stehen. So wie bei der immersiven Klang- und Bildlandschaft, die der US-amerikanische Künstler Arthur Jafa in der Rotunda geschaffen hat: Er lud das Publikum mit einer rhythmischen Abfolge von Bildern und Musik zur Reflexion ein, um komplexe gesellschaftliche Themen und Emotionen zu erfassen.

Geht es in der grossen Herbst/Winter-Ausstellung «Minimal» ebenfalls um Kontemplation?

Sehr sogar. Es ist die erste grosse Ausstellung in Frankreich, die sich der Minimal Art, also der Ästhetik «Less Is More» widmet. Sie lädt dazu ein, den Lärm der Welt auszublenden und auf das Unsichtbare am Rand des Sichtbaren zu achten. Das Streben nach Reduktion öffnet neue Horizonte. Es geht darum, zur Ruhe zu kommen, das Chaos der Welt zu bannen. Wir planen zudem Konzerte mit minimalistischer Musik, Steve Reich etwa, und wollen eine ganzheitliche Erfahrung für die Sinne bieten, die visuelle Kunst, Meditation, Musik verbindet – ein bisschen wie die Welt von Agnes Martin, die New York verlässt und in die Wüste zieht, um mit sich verbunden zu bleiben.

Ein Escape-Room?

(Lacht). Vielleicht. Aber vor allem ein Raum, um mit sich selbst und der Gegenwart Verbindung aufzunehmen.

Worauf freuen Sie sich persönlich?

Auf den Auftakt der «Minimal»-Schau mit der ersten Ausstellung von Lygia Pape in Frankreich. Sie lädt dazu ein, Werke als sinnliche Präsenz zu begreifen und nicht nur als Objekte. Papes Kunst war auch eine Reaktion auf die Militärdiktatur in Brasilien.

Paris hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem Zentrum für zeitgenössische Kunst enwickelt. Woher kommt diese neue Energie?

Dank der Unterstützung des Kulturministeriums während der Pandemie konnte vieles bewahrt werden. Darüber hinaus gibt es hier eine unglaubliche Energie: Paris zieht heute Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt an, neue ausländische Galerien haben sich niedergelassen. Ausserdem sind die Art Basel Paris sowie neue Stiftungen und Sammlungen mit eigenen Räumen entstanden. Die Bourse de Commerce war sicher auch ein starkes Signal für die Kunstwelt. Das Ökosystem, das all diese Orte zusammen bilden, ist un- gemein spannend. Es vibriert hier!

Haben Sie einen Lieblingsort ausserhalb der Bourse?

Die Philharmonie de Paris. Sie hat ein grossartiges Programm. Ich liebe vor allem die Konzerte des Ensemble intercontemporain, dessen Verwaltungsratsvorsitzende ich bin.

Wo laden Sie Ihre Batterien sonst noch auf?

Beim Schwimmen, beim Spazierengehen. Und beim Träumen.

Bourse de Commerce – Pinault Collection: «Lygia Pape, Weaving Space», bis 26. Januar 2026. «Minimal», 8. Oktober bis 19. Januar 2026. www.pinaultcollection.com

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