Als Schriftstellerin müsse sie sich in die Welt hineingeben, um sie zu verstehen und darüber schreiben zu können. Das habe sie schon als Kind interessiert. Rachel Kushner wuchs zunächst im ländlichen Oregon auf, bevor die Familie – die Eltern angehende Akademiker – in ein Arbeiterviertel in San Francisco zog. Die fünf Jahre, die sie dort verbrachte, seien prägend für die spätere Schriftstellerin gewesen. Mit sechzehn immatrikulierte sie sich für Politische Ökonomie an der University of California, Berkeley, und erwarb später einen Master of Fine Arts in kreativem Schreiben an der Columbia University in New York. 2008 erschien Kushners literarisches Debüt «Telex from Cuba», ein Gesellschaftsporträt des vorrevolutionären Kuba. Der Roman wurde für den National Book Award nominiert. 2013 folgte «The Flamethrowers», das die New Yorker Kunstszene der 1970er-Jahre mit den politischen Unruhen in Italien verknüpft. Auch dieses Buch war Finalist für den National Book Award. Mit «The Mars Room» (deutscher Titel: «Ich bin ein Schicksal») thematisierte sie 2018 das Leben einer inhaftierten Frau in Kalifornien und formulierte damit ihre Kritik am Strafvollzugssystem. Der Roman wurde für den Man Booker Prize nominiert und gewann den Prix Médicis étranger. Als Aktivistin sieht sich Kushner jedoch nicht, ihre Romane seien kein «Vehikel für eine sozialpolitische Botschaft». 2022 veröffentlichte Kushner den Essayband «The Hard Crowd». Ihre Bücher werden in 27 Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Los Angeles, laut ihr der perfekte Ort für eine Autorin, weil sie hier unsichtbare Zuschauerin sein könne. Neben ihren Büchern schreibt sie vor allem für den «New Yorker» und das «New York Times Magazine» und ist Kolumnistin des «Harper’s Magazine».
Für ihr aktuelles Buch habe sie nicht gross recherchieren müssen. Vieles daraus habe sie selbst erlebt. Die vergangenen vierzehn Sommer habe sie mit ihrer Familie im zum Unesco-Weltkulturerbe gehörenden französischen Vézère-Tal verbracht, die Gegend taucht im Buch als «Guyenne» auf. «Romane sind für mich Gelegenheiten, ein Paralleluniversum zu erschaffen, das auf meiner Vertrautheit mit diesem Universum basiert, aber mit etwas Elektrisierendem, das den Raum des Romans auflädt, all die erfundenen Teile, die meine Art sind, das Leben so zu verarbeiten, wie ich es erlebe.» Aus Neugier habe sie etwas über Anthropologie gelesen. Vor allem aber auf das Wissen ihres Mannes über das Frankreich des 20. Jahrhunderts und die linke Bewegung zurückgegriffen. Ihr Sohn sei ausserdem vertraut mit dem Höhlensystem der Region – mittlerweile arbeite er als Guide und führte seine Mutter in die Welt unter der Erde ein. Kushner habe hier schon immer einen Roman spielen lassen wollen und sich gleichzeitig für das prähistorische Leben in Europa und die Hinwendung zum Primitivismus der Ultralinken interessiert. An der Idee zum Roman arbeitete sie dreieinhalb Jahre, bevor sie den Text in einem vierzehn Monate währenden «Adrenalinrausch» aufs Papier brachte, und zwar zwischen fünf Uhr am Morgen und acht am Abend.
Dabei habe sie die Idee einer Figur gehabt, die philosophiert und in einer Höhle lebt, um sich von der «Kalenderzeit» zu befreien. «Bruno ist sehr frei von einer realen Person inspiriert.» Und für Kushner die eigentliche Hauptfigur des Buchs. Was interessiert sie an Menschen, die nach ihren eigenen Regeln leben? «Wir alle leben bis zu einem gewissen Grad nach unseren eigenen Regeln. Die Regel einiger Menschen ist es, sich denen anderer zu unterwerfen. Das ist trotzdem eine aktive Entscheidung. Ich persönlich scheue mich vor Autorität. Ich kann es nicht ertragen, wenn mir jemand sagt, was ich tun soll. Menschen, die sich nicht an Konventionen halten, wirken mitunter so, als verfügten sie über eine besondere Form von Weitblick. Meine Eltern sind so. Sie machen ihr eigenes Ding. Ich respektiere das sehr.»
In «See der Schöpfung» schreibt eben jener Freigeist Bruno, dass wir in einem «funkelnden, führerlosen Wagen» auf unser Aussterben zusteuern. Kushner sagt, dass sich seine Beschreibung als zutreffender erwies, als sie ursprünglich dachte. Und dass alle Ansichten Brunos im Wesentlichen auch ihre seien. Welche Verantwortung hat Literatur Kushners Meinung nach gerade in Zeiten wie diesen? «Literatur trägt eine Verantwortung – nicht nur in Zeiten der Krise. Sie muss gut sein, ambitioniert, originell, aufrichtig. Sie darf sich nicht anbiedern, soll Eitelkeit und Mittelmass meiden. Ihre Aufgabe ist es, sich selbst ernst zu nehmen, sich den drängenden, schwierigen, oft düsteren Fragen zu stellen. Gleichzeitig darf sie nicht davor zurückschrecken, Lust und Erfüllung darin zu finden, das Tragische wie das Lächerliche unserer menschlichen Existenz auszuleuchten.» Zwischen Verrat und Vision, Hochmut und Höhle lässt Kushner so die Hauptfiguren Sadie und Bruno am Ende in denselben Himmel, auf dieselben Sterne blicken. Und die Hoffnung durchscheinen, dass wir es doch noch aus dem führerlosen Gefährt schaffen.
«See der Schöpfung» von Rachel Kushner ist bei Rowohlt erschienen.