Rachel Kushner: «See der Schöpfung»

Agent Provocateur

Mit «See der Schöpfung» hat Rachel Kushner einen smarten Spionageroman geschrieben, der Fragen zur Gesellschaft, ihrem Verhältnis zur Natur und dem Erbe der Menschheit aufwirft. Er führt uns tief unter die Erde und zu manch intellektuellem Höhenflug.

Rachel Kushner

«Ich wollte Themen wie Landleben, junge Militante, die sich mit der Polizei anlegen, und Neandertaler miteinander kombinieren. Eben die Zutaten für einen riesigen Bestseller!» Rachel Kushner (*1968) macht einen Scherz und schiebt gleich hinterher, dass der Erfolg, den ihr kürzlich erschienener Roman «See der Schöpfung» (Original: «Creation Lake») in den USA einfuhr, eine Überraschung gewesen sei. Das Buch stand 2024 auf der Shortlist des Booker Prize, was dessen Jury unter anderem mit der «elektrisierenden Verknüpfung» von aktueller Politik mit einer dunklen Gegengeschichte der Menschheit begründete. Der Roman sei ein tiefgründiger, unwiderstehlicher Pageturner. Tatsächlich könnte er Kushners Wunsch erfüllen, nicht mehr nur als «autovernarrte Motorrad-Lady» wahrgenommen zu werden. Was als Einschätzung ihrer Aussenwahrnehmung mal mindestens kokett wirkt.

Ja, Kushner hat über ihre Teilnahme am illegalen Langstreckenrennen Baja 1000 durch die Wüste der mexikanischen Halbinsel Baja California geschrieben: «Ich sehe den Reifen die Strasse verlassen, und dann bin ich mitten in der Luft über dem Motorrad, davon getrennt, hoch über den Instrumenten und dem Lenker, und als Nächstes ist da ein schneller Sturz und ein brutaler, dumpfer Aufprall, wohl mit dem Kopf, wie ich angesichts des enormen Kraters auf der Rückseite meines teuren Rennhelms später ermitteln konnte.» Der Text ist im Essayband «Harte Leute» («The Hard Crowd») erschienen, in dem sich auch Beobachtungen über ihre Erfahrungen als Barkeeperin in der Rockmusikszene der 1990er, über Marguerite Duras oder die italienische Arbeiterbewegung der 1970er finden. Der «Guardian» bezeichnet Kushner denn auch als eine Art Joan Didion der Generation X.

Aufs Thema Risikobereitschaft angesprochen, sagt Kushner: «In der Kunst geht es um eine bestimmte Art von Ehrgeiz, ein gewisses Mass an Vertrauen in den Instinkt, was vielleicht den Mut zum Risiko erfordert. Man schreibt nicht, um anderen zu gefallen oder beliebt zu sein. Man tut es, um etwas zu schaffen, was wahr und originell erscheint.» Das Risiko, das sie mit ihrem neuen Roman eingegangen sei, bestünde vielleicht darin, eine Erzählerin gewählt zu haben, die eine Art Teufel sei. Eine verdeckte Ermittlerin, die sich nicht um andere Menschen schere. Zumindest behaupte sie das zunächst. «Menschen neigen jedoch dazu, sympathische Erzähler zu bevorzugen.» Dabei gebe es grossartige Literatur, die aus der Perspektive eines unverbesserlichen Erzählers beschrieben werde, Kushner nennt «Lolita» (Vladimir Nabokov), «The Kindly Ones» (Jonathan Littell), «American Psycho» (Bret Easton Ellis). «Im Vergleich zu denen ist meine Erzählerin ein Schmusekätzchen.»

Die Erzählerin in «See der Schöpfung» heisst Sadie Smith, ist 34, «angemessen kultiviert» und abgebrüht. Sadie ist nicht ihr wirklicher Name, den erfahren die Lesenden nicht, die ehemalige FBI-Agentin arbeitet nun als freiberufliche Spionin. Sie verfügt über wenig Skrupel, aber «beachtlicher Brüste» und wird von ihren Auftraggebern in eine entlegene Gegend in Südfrankreich geschickt. Hier soll sie eine Gruppe von Umweltaktivisten infiltrieren, die in der ländlichen Kommune Le Moulin leben. Die Gruppe wird verdächtigt, Sabotageakte gegen lokale Infrastrukturen zu planen. Also schleust sich Sadie in diese Gruppe ein, manipuliert und intrigiert, sinniert über Gerechtigkeit und Kaltaufrisse, während sie Sixpacks lauwarmes Dosenbier trinkt. In ihrer Arbeit wird sie immer wieder von den Ausführungen Bruno Lacombes unterbrochen, die dieser der Kommune via E-Mail zukommen lässt. Bruno ist der Vordenker der «Moulinarden», lehnt die Zivilisation ab, lebt in einer Neandertalerhöhle und sieht die Rettung der Menschheit in der Rückwendung zu ihren Ursprüngen. Sadie lässt sich mehr und mehr auf Brunos Gedankenwelt ein, die ihre eigenen Überzeugungen ins Wanken bringen. Bis zum dramatischen Finale des Ganzen ...

Warum hat Kushner ausgerechnet eine abtrünnige FBI-Spionin als Erzählerin gewählt? Die Figur der Sadie sei inspiriert von jenen Undercover-Polizisten, die Mitte der 2000er-Jahre Gruppen linker Aktivisten infiltrierten. «Ein Agent in Kalifornien hat eine Freundin einer Freundin in eine Falle gelockt, die daraufhin für neun Jahre ins Gefängnis musste, bei einer Haftstrafe von einundzwanzig Jahren, bevor ihr Anwalt beweisen konnte, dass sie in eine Falle gelockt worden war.» Auch der Fall um den Ermittler Mark Kennedy habe Kushner interessiert. Kennedy arbeitete verdeckt für die britische Polizei und infiltrierte eine Kommune im Norden Frankreichs. «Neun oder zehn Frauen verklagten die britische Polizei, die wusste, dass Kennedy unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Affären mit ihnen hatte. Er wiederum klagte auch – weil ihn die Polizei nicht davor geschützt habe, sich zu verlieben.» Für Kushner habe von Anfang an festgestanden, dass ihre Erzählerin eine Frau sein sollte.

Fühlt sie sich als Autorin, die sich immer wieder in unterschiedliche Themen einarbeitet, einer Ermittlerin verwandt? «Es ist wichtig, hier einen Unterschied zu machen: Ein Spion wie George Smiley von John Le Carré versucht, eine dunkle Landschaft zu erhellen und Ordnung zu finden, das Design der Wahrheit. Sadie ist in diesem Sinne keine Spionin. Sie sucht nicht nach Mustern, nach Erleuchtung oder danach, ein Verbrechen zu verstehen. Sie ist das Verbrechen. Sie ist ein Agent provocateur und nähert sich einer Situation, als gäbe es für sie nichts zu lernen. Ihr Ziel ist es, das Leben anderer Menschen zu ruinieren. Später im Buch beginnt diese Fassade zu bröckeln. Natürlich bin ich nicht so. Ich achte auf die Details, die andere Menschen vielleicht nicht bemerken oder an die sie sich später nicht erinnern. in diesem Sinne ähneln Schriftsteller vielleicht den Spionen.»

Als Schriftstellerin müsse sie sich in die Welt hineingeben, um sie zu verstehen und darüber schreiben zu können. Das habe sie schon als Kind interessiert. Rachel Kushner wuchs zunächst im ländlichen Oregon auf, bevor die Familie – die Eltern angehende Akademiker – in ein Arbeiterviertel in San Francisco zog. Die fünf Jahre, die sie dort verbrachte, seien prägend für die spätere Schriftstellerin gewesen. Mit sechzehn immatrikulierte sie sich für Politische Ökonomie an der University of California, Berkeley, und erwarb später einen Master of Fine Arts in kreativem Schreiben an der Columbia University in New York. 2008 erschien Kushners literarisches Debüt «Telex from Cuba», ein Gesellschaftsporträt des vorrevolutionären Kuba. Der Roman wurde für den National Book Award nominiert. 2013 folgte «The Flamethrowers», das die New Yorker Kunstszene der 1970er-Jahre mit den politischen Unruhen in Italien verknüpft. Auch dieses Buch war Finalist für den National Book Award. Mit «The Mars Room» (deutscher Titel: «Ich bin ein Schicksal») thematisierte sie 2018 das Leben einer inhaftierten Frau in Kalifornien und formulierte damit ihre Kritik am Strafvollzugssystem. Der Roman wurde für den Man Booker Prize nominiert und gewann den Prix Médicis étranger. Als Aktivistin sieht sich Kushner jedoch nicht, ihre Romane seien kein «Vehikel für eine sozialpolitische Botschaft». 2022 veröffentlichte Kushner den Essayband «The Hard Crowd». Ihre Bücher werden in 27 Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Los Angeles, laut ihr der perfekte Ort für eine Autorin, weil sie hier unsichtbare Zuschauerin sein könne. Neben ihren Büchern schreibt sie vor allem für den «New Yorker» und das «New York Times Magazine» und ist Kolumnistin des «Harper’s Magazine».

Für ihr aktuelles Buch habe sie nicht gross recherchieren müssen. Vieles daraus habe sie selbst erlebt. Die vergangenen vierzehn Sommer habe sie mit ihrer Familie im zum Unesco-Weltkulturerbe gehörenden französischen Vézère-Tal verbracht, die Gegend taucht im Buch als «Guyenne» auf. «Romane sind für mich Gelegenheiten, ein Paralleluniversum zu erschaffen, das auf meiner Vertrautheit mit diesem Universum basiert, aber mit etwas Elektrisierendem, das den Raum des Romans auflädt, all die erfundenen Teile, die meine Art sind, das Leben so zu verarbeiten, wie ich es erlebe.» Aus Neugier habe sie etwas über Anthropologie gelesen. Vor allem aber auf das Wissen ihres Mannes über das Frankreich des 20. Jahrhunderts und die linke Bewegung zurückgegriffen. Ihr Sohn sei ausserdem vertraut mit dem Höhlensystem der Region – mittlerweile arbeite er als Guide und führte seine Mutter in die Welt unter der Erde ein. Kushner habe hier schon immer einen Roman spielen lassen wollen und sich gleichzeitig für das prähistorische Leben in Europa und die Hinwendung zum Primitivismus der Ultralinken interessiert. An der Idee zum Roman arbeitete sie dreieinhalb Jahre, bevor sie den Text in einem vierzehn Monate währenden «Adrenalinrausch» aufs Papier brachte, und zwar zwischen fünf Uhr am Morgen und acht am Abend.

Dabei habe sie die Idee einer Figur gehabt, die philosophiert und in einer Höhle lebt, um sich von der «Kalenderzeit» zu befreien. «Bruno ist sehr frei von einer realen Person inspiriert.» Und für Kushner die eigentliche Hauptfigur des Buchs. Was interessiert sie an Menschen, die nach ihren eigenen Regeln leben? «Wir alle leben bis zu einem gewissen Grad nach unseren eigenen Regeln. Die Regel einiger Menschen ist es, sich denen anderer zu unterwerfen. Das ist trotzdem eine aktive Entscheidung. Ich persönlich scheue mich vor Autorität. Ich kann es nicht ertragen, wenn mir jemand sagt, was ich tun soll. Menschen, die sich nicht an Konventionen halten, wirken mitunter so, als verfügten sie über eine besondere Form von Weitblick. Meine Eltern sind so. Sie machen ihr eigenes Ding. Ich respektiere das sehr.»

In «See der Schöpfung» schreibt eben jener Freigeist Bruno, dass wir in einem «funkelnden, führerlosen Wagen» auf unser Aussterben zusteuern. Kushner sagt, dass sich seine Beschreibung als zutreffender erwies, als sie ursprünglich dachte. Und dass alle Ansichten Brunos im Wesentlichen auch ihre seien. Welche Verantwortung hat Literatur Kushners Meinung nach gerade in Zeiten wie diesen? «Literatur trägt eine Verantwortung – nicht nur in Zeiten der Krise. Sie muss gut sein, ambitioniert, originell, aufrichtig. Sie darf sich nicht anbiedern, soll Eitelkeit und Mittelmass meiden. Ihre Aufgabe ist es, sich selbst ernst zu nehmen, sich den drängenden, schwierigen, oft düsteren Fragen zu stellen. Gleichzeitig darf sie nicht davor zurückschrecken, Lust und Erfüllung darin zu finden, das Tragische wie das Lächerliche unserer menschlichen Existenz auszuleuchten.» Zwischen Verrat und Vision, Hochmut und Höhle lässt Kushner so die Hauptfiguren Sadie und Bruno am Ende in denselben Himmel, auf dieselben Sterne blicken. Und die Hoffnung durchscheinen, dass wir es doch noch aus dem führerlosen Gefährt schaffen.

«See der Schöpfung» von Rachel Kushner ist bei Rowohlt erschienen.

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