Kolumne: Peter Stramm

Reibung erzeugt Wärme

Peter Stamm (59) wurde 2018 für «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (2018) mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. «Das Archiv der Gefühle» (2021) ist sein jüngster Roman. In der Kolumne teilt der Schriftsteller seine Gedanken.

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Physik war in der Schule eines meiner Lieblingsfächer. Mechanik, Optik, Wärmelehre, ich liebte die einfachen Gesetze, nach denen sich Gegenstände im Raum bewegten, Licht sich ausbreitete, Wärme von einem Objekt auf ein anderes überging. Selbst wenn das Thema komplizierter wurde, war es mit etwas Aufwand doch zu begreifen. Aber das Glück währte kurz. Denn die Welt, das machte uns unser Lehrer bald klar, funktionierte natürlich ganz anders, war viel komplexer als unsere Berechnungen. Einer der Störfaktoren war die Reibung, die die ganze schöne Mechanik ruinierte und sich kaum berechnen liess. Immerhin profitierte ich in vielen Lebenssituationen von ihr, etwa wenn ich auf einen Baum oder einen Felsen kletterte oder mir meine rauen Sohlen Halt gaben auf dem Untergrund. Ohne Reibung würde jeder Motor durchdrehen, würde jede ungebremste Bewegung sich ins Unendliche fortsetzen.

Im Austausch mit anderen werden wir ebenfalls dauernd gebremst, was in der Physik die Reibung ist, sind im sozialen Umgang unser Anstand, unser Schamgefühl, oft auch nur die Angst vor der direkten Widerrede anderer. Im Internet hingegen gibt es keine Reibung und keinen Widerstand. Wir können uns ungebremst und ohne Scham über alles auslassen. Wozu das führt, kann man in den Kommentarspalten und in den sozialen Netzwerken lesen. Nur schon die oft prekäre Rechtschreibung in diesen Foren lässt erahnen, dass die Äusserungen unkontrolliert ins Netz geflossen sind. Müssten die Verfasser ihre Kommentare über unliebsame Politiker, Künstlerinnen, Schauspieler, Sportlerinnen, aber auch Mitschülerinnen oder Lehrer vor Publikum oder gar vor den Geschmähten selbst vortragen, wären sie vermutlich nur halb so hasserfüllt. Oft reicht es schon, auf einer Seite im Netz keine anonymen Kommentare mehr zuzulassen, und sofort ändert sich der Tonfall und die Beiträge werden zivilisierter, ausgewogener, durchdachter.

Was die Reibung in der physischen Welt ist, ist die soziale Kontrolle im gesellschaftlichen Diskurs. Natürlich wird es auch in realen Diskussionen einmal laut, aber die Chance, dass die Streithähne sich am Ende die Hand geben, ist viel grösser als bei virtuellen Konflikten, bei denen die Kontrahenten zu Hause vor ihren Computern sitzen und durchdrehen wie ein Motor ohne Widerstand. Man hört oft Klagen über die soziale Kontrolle in kleinen Gemeinden, in politischen wie in ideologischen. Aber sie hat auch ihr Gutes. Anonyme Äusserungen von Whistleblowern, von Opfern sexueller und physischer Gewalt haben in den letzten Jahren viel Gutes in Bewegung gesetzt. Wenn es aber um Schmähungen und Beschimpfungen geht, um Shitstorms und um das Canceln von politischen Gegnern, täten wir gut daran, anonyme Stimmen zu ignorieren. Und selbst weniger zu schreien und mehr zuzuhören.

Als sich kürzlich die halbe Welt über die abgebrochenen Konzerte von zwei Reggaebands ereiferte, fehlte vor allem eines: die Stimme derer, die sich während der Konzerte «unwohl» gefühlt hatten. Kaum jemandem schien es um eine Diskussion zu gehen. Viel lieber ereiferten sich alle über die Engstirnigkeit dieser Leute. Ich bin der Letzte, der etwas gegen Rastafrisuren auf weissen Köpfen hat. Und ich glaube, unsere Seite hat sehr gute Argumente. Wir müssen uns nicht davor scheuen, dass diese in einer Diskussion an jenen der anderen Seite gemessen und vielleicht abgeschliffen werden. Denn auch das vermag die Reibung: etwas Rohes rund zu machen und zum Glänzen zu bringen.

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