Victorie de Castellane von Dior Joaillerie

Ein Gedicht von Juwelen

Landschaften, Blumenbouquets, naive Tableaus — die aktuelle Haute–Joaillerie–Kollektion von Dior ist pure Poesie.

Delikat

Die Luft vibriert vor Kreativität und Lebensfreude. Haute-Joaillerie-Kundinnen mischen sich unter Journalisten mischen sich unter Freunde des Hauses. Das Château de la Colle Noire, Christian Diors ehemalige Residenz im provenzalischen Montauroux, erlebt an diesem Maitag einen seltenen Abend des spielerischen Überschwangs und der formvollendeten Fantasie, wie ihn nur die reiche Imagination von Victoire de Castellane, Kreativdirektorin von Dior Joaillerie, zu erschaffen vermag. Das Herrenhaus inmitten eines fünfzig Hektar grossen Parks spiegelt sich in der glatten Oberfläche eines vierzig Meter langen Teichs. Später am Abend tragen Models die Juwelen der neuen Haute-Joaillerie-Kollektion «Diorexquis» – es sind 110 an der Zahl – in Couture-Kreationen der ehemaligen Dior-Kreativdirektorin Maria Grazia Chiuri um das Wasser herum. Ihr magisches Schimmern verdanken die Stücke unter anderen zwei traditionellen Techniken: Plique-à-jour, bei der mit Email oder Lack filigrane Muster entstehen, und Opale doublet, bei der eine Opalschicht über einen anderen Trägerstein wie Onyx oder Perlmutt gelegt wird, um das Farbspiel von Himmel oder Wasser nachzubilden.

Seit 27 Jahren prägt Victoire de Castellane, 1962 in Paris geboren, mit ihrem flamboyanten und unkonventionellen Stil die Sprache des Schmucks im Haus Dior. Konventionen sind ihr fremd. Schon früh übertrafen die Volumen und Proportionen ihrer Ringe alles, was die Bourgeoisie gewohnt war. Ganz zu schweigen von den Farbexplosionen, die sich auf ihren Kreationen abspielten. Ihre Entwürfe sind fröhlich, verspielt und voller kindlicher Naivität. Für sie ist Schmuck eine Domäne der Träume, des Glücks und der Freude, mit derselben Anziehungskraft wie die Gedichte Baudelaires. Einen Tag nach der Show auf La Colle Noire begegnen wir der Poetin unter den Schmuckdesignenden zum Gespräch. Wie ihre Juwelen selbst sprüht auch sie an diesem Tag Funken.

BOLERO Wie entstand die hübsche Idee, für die Show immer zwei Halsketten zu kombinieren?

Victoire de Castellane Ein Schmuckstück kann reizend und üppig sein, aber einzeln getragen auf dem Laufsteg unter Umständen zu wenig wirken. Zwei ergänzen sich oftmals, ohne sich gegenseitig zu stören – Farben halten dabei die Schmuckstücke im Gleichgewicht. Ich liebe das Spiel mit dieser Balance im scheinbaren Chaos.

Wie kultivieren Sie diesen besonderen Zauber, bei dem jedes Stück für sich wirkt und zugleich Teil eines stilvollen gemeinschaftlichen Gartens ist?

Ich arbeite vor allem mit der Dior-Identität und mit den Gefühlen, die ich in mir trage. Wenn man mich fragt, ob mich Kunst oder Ähnliches inspiriert, sage ich: «Ich nehme vieles auf, aber ich gehe nicht in Ausstellungen, zeitgenössische Kunst interessiert mich nicht.» Meine Kreativität ist eher introvertiert, stark geprägt von meiner Kindheit. Alle Bilder, Eindrücke und Referenzen, die ich damals aufgenommen habe, sind heute Teil von mir und damit auch Teil meiner Kreation.

Tatsächlich ist es so, als würde man die Natur oder einen Garten mit den Augen eines Kindes sehen. In der italienischen Malerei der Frührenaissance gab es auch diese Idee, alles auf eine Ebene zu setzen, ohne Perspektive – die Dimensionen in der Darstellung waren nicht real.

Mir geht es überhaupt nicht darum, etwas exakt zu reproduzieren – das interessiert mich nicht. Was mich begeistert, ist, die Realität als Ausgangspunkt zu nehmen, um über sie hinauszugehen. Das eröffnet mir viel mehr Möglichkeiten für meine Dekors und Kreationen. Alles andere langweilt mich. Nehmen wir zum Beispiel ein Reh, eingebettet in eine Szenerie. Es ist keine dreidimensionale Reliquie, die als Figur hervorspringen soll, weil es mir nicht um Volumen oder plastische Präsenz geht, sondern vielmehr um eine malerische, fast gemäldeartige Projektion. Ich finde es charmant, solche imaginären Welten zu erschaffen.

Wie haben Sie sich Ihr feines Gespür für antiken und modernen Schmuck angeeignet?

Das kam ganz selbstverständlich – ich bin schlicht von Schmuck besessen . Schon als Kind hat mich Schmuck fasziniert. Seit jeher liebe ich es, in Antiquitätengeschäften alte Stücke zu betrachten. Akademisch arbeiten liegt mir hingegen nicht, und auch in Büchern blättere ich kaum.

Was gefiel Ihnen bereits als kleines Mädchen am Schmuckhandwerk?

Ich liebe daran, dass man mit allen Farben arbeiten kann, die existieren – denn in Edelsteinen findet man tatsächlich alle Farben der Welt, was ich genial finde. Und ich kann mir, auch wenn das jetzt klischiert klingt, keine Kreativität ohne völlige Freiheit vorstellen. Für mich heisst das: sich nicht darum zu kümmern, was real ist, welche Farben tatsächlich «erlaubt» sind, sondern damit zu spielen. Farbe ist für mich das Wichtigste. Und wenn sie auf Dinge trifft, auf die sie eigentlich gar nicht gehört – na und? Für mich ist das ganz selbstverständlich.

Kam Ihre Liebe zur Farbe vom antiken Schmuck oder von Gemälden?

Nein, sie kam nicht von altem Schmuck, sondern von meiner Obsession für Filme, die ich als Kind gesehen habe. Es war das Hollywood der Fünfziger- und Sechzigerjahre mit seinen extrem gesättigten Farben. Ich kannte ja noch das Schwarz-Weiss-Fernsehen. Und dann kam eines Tages das Farbfernsehen. Ich erinnere mich, wie ich den Farbknopf am Fernseher bis zum Anschlag aufdrehte. Die Farben wurden regelrecht neonhaft, einfach unglaublich.

Haben Sie in letzter Zeit neue Vorlieben für bestimmte Farben und Edelsteine entwickelt oder gar Neues entdeckt?

Für die Kollektion «Diorexquis» habe ich mit übereinandergeschichteten Hartsteinplatten gearbeitet, um Farbnuancen, irisierende Effekte und vor allem spannende Transparenzspiele zu erzeugen. Am Ende entstehen so leicht surreale Wirkungen, etwa wenn Opal auf Perlmutt trifft und unterschiedliche Lichtreflexe sowie ungeahnte Materialtiefe entstehen. Das lässt sich mit Edelsteinen allein nicht erreichen.

Ist es technisch schwierig, mit solchen Steinplatten zu arbeiten und darüber Edelsteine zu fassen? Welche Art von Komplexität bringt das mit sich?

Ja, es ist kompliziert. Die Platten brechen leicht und oft. Dann muss das Material neu beschafft werden. Das Fassen erfordert höchste Exzellenz und Präzision, und selbst wenn es gelingt, ist das eine grosse Leistung. Diese Technik erweckt etwas zum Leben, das ich nirgendwo sonst gesehen habe. Sie ermöglicht es mir, kleine Landschaften zu erschaffen. Es gibt zum Beispiel ein Collier, bei dem Diamanttropfen auf rosafarbenen und violetten Opalplatten sitzen – wie ein Schauer kurz vor dem Sonnenschein samt Regenbogeneffekt. Das Ergebnis kennt man jedoch nie im Voraus. Entsteht am Ende tatsächlich genau der Farbton, den man sich beim Gouachieren ausgemalt hat, ist das umso erstaunlicher.

Wie schwierig war es, all diese Edelsteine zusammenzutragen?

Enorm schwierig. Manche Steine gibt es kaum noch. Wir recherchieren, suchen immer weiter. Manchmal finden wir neue Quellen. Für Einzelstücke machbar, für Reproduzierbares aber kompliziert.

Beginnen Sie eine neue Kollektion üblicherweise mit den Steinen?

Nie! Für mich steht die Idee im Mittelpunkt – manchmal reicht ein winziges Detail. Ein kleines Quadrat kann der Ausgangspunkt für eine ganze Kollektion werden. Zum Beispiel ein Opal auf einem Quadrat aus Türkis – und plötzlich denke ich: Das ist genial! Von dort aus spinne ich die Idee weiter. Doch das ist nur eine Technik für einzelne Stücke. Die gesamte Kollektion entsteht aus einer persönlichen Stimmung – oft inspiriert von der Natur oder einem Adjektiv wie bei «Diorexquis». Ich fragte mich: Was bedeutet exquisit? Was macht Dinge exquisit? Daraus entstand eine Mischung aus kindlicher Leichtigkeit und handwerklicher Virtuosität.

Arbeiten Sie heute auch digital, oder geben Sie analog weiterhin den Vorzug?

Im Team arbeiten wir digital, doch ich bevorzuge das Modellieren von Hand. Meine 3D-Modelle sind handbemalt und mit Strass besetzt – aussergewöhnlich schön, fast wie echter Schmuck. Wir bewahren sie in den Dior-Archiven auf, und hoffentlich zeigen wir sie eines Tages in einer Ausstellung.

Sie haben vorhin das Thema Sourcing angesprochen. Schränkt es Ihre Arbeit nicht doch ein Stück weit ein, dass es so schwierig ist, genau die Steine zu finden, von denen Sie träumen?

Deshalb arbeite ich mit Lackfarben. Wenn ich etwas nicht (mehr) finde, muss ich neue Weg gehen. Der Spielraum wird tatsächlich kleiner. Besonders dann, wenn man höchste Ansprüche an die Qualität stellt. Zwar gibt es Lack in allen Farben, aber es geht um mehr: um Leuchtkraft, um dieses besondere Strahlen.

Das Interesse an Schmuck ist gewachsen, auch bei Männern. Wie reagieren Sie auf die neuen globalen Bedürfnisse?

Ich freue mich vor allem, wenn Männer meine Schmuckstücke für sich entdecken. Das ist spannend – spannender jedenfalls, als gezielt Schmuck für Männer zu entwerfen. Denn das interessiert mich nicht. Genauso wenig geht es mir darum, Schmuck für Frauen zu machen. Mich reizt es, etwas zu kreieren, das funkelt – und das man tragen kann. Punkt. Mir ist wichtig, Schmuck so zu gestalten, dass er am ganzen Körper Lichtpunkte setzen kann. Es hat etwas Raffiniertes, das Licht dorthin zu bringen, wo man es nicht erwartet. Die funkelnden Broschen auf dem Rücken der Models in der Show zum Beispiel – das war ein magischer Moment.

Gibt es in dieser Kollektion ein Stück, das Ihnen besonders am Herzen liegt?

Es ist schwierig, sich an Stücke zu binden, weil ich weiss, dass sie wieder gehen werden. Ich muss auch an die anderen denken, die als Nächstes kommen. Es ist wie bei einer Familie, die sich für ein Fest trifft und sich danach wieder trennt.

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