Reise nach Warschau

Stadt der Kontraste

Die Liebe für Warschau wächst langsam. Wer ihr Zeit gibt, entdeckt eine Stadt voller überraschender Gegensätze, kultureller Tiefe und Wärme.

Im Wandel

Es war kalt und regnerisch am Tag meiner Ankunft, was ich als passend empfand. Die nassen, grauen Fassaden und dunkel ge- kleideten Menschen, die an den Autofenstern vorbeizogen, ergaben ein stimmiges Bild. Hart, abweisend, fremd – eine Stadt, genau wie ich sie mir vorgestellt hatte. Bis dahin zumindest.

Warschau ist keine Liebe auf den ersten Blick, nicht für mich und wohl auch für kaum jemanden sonst. Die Stadt ist nicht malerisch wie Paris oder Rom, zugänglich wie Amsterdam oder lebenslustig wie Athen. Sie ist ein Mosaik aus Gegensätzen, ein Ort voller Brüche zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ihre Geschichte ist geprägt von Zerstörung, Widerstand, Wiederaufbau und Wandel. Und von Durchhaltewillen, Fleiss und konstanter Neuerfindung.

Warschau entstand im Mittelalter als kleines Handels- und Fischerdorf am Ufer der Weichsel. Im 14. Jahrhundert wurde sie befestigt und wuchs rasch. 1596 verlegte König Sigismund III. Wasa die polni- sche Hauptstadt von Krakau nach Warschau – aus praktischen Gründen: Die Lage zwischen Krakau und Vilnius war günstiger für die Verwaltung der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Auf eine Phase der Blüte im 17. und 18. Jahrhundert folgten die drei Teilungen Polens (1772, 1793, 1795), und der Staat verschwand von der Landkarte. Warschau geriet unter preussische und später russische Kontrolle. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der Monarchien kehrte Polen 1918 als unabhängiger Staat zurück – mit Warschau als neuer alter Hauptstadt. Die 1920er- und 1930er- Jahre waren geprägt von Modernisierung: neue Universitäten, Theater, moderne Architektur – ein blühendes kulturelles Leben. Es war von kurzer Dauer.

Am 1. September 1939 begann mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Warschau wurde nach erbitterter Verteidigung besetzt und erlebte eine der dunkelsten Zeiten seiner Geschichte: Genozid, Armut, systematische Zerstörung – nach dem Krieg lag die Stadt in Trümmern. Mit enormer Anstrengung und Hingabe baute man sie wieder auf. Viele Teile der Altstadt, der Stare Miasto, wurden basierend auf alten Gemälden, Zeichnungen und Erinnerungen mit viel Liebe und Akribie Stein für Stein rekonstruiert – und Warschau wurde zum Symbol für den Wiederaufbauwillen Polens und den Stolz eines Volkes, das sich nicht unterkriegen lässt.

Noch Anfang dieses Jahrtausends galt Warschau als graue Hauptstadt mit schwerem Erbe, gezeichnet von Zerstörung und einer tief verankerten Melancholie. Wie viel sich seither verändert hat! Heute ist Warschau eine Metropole im Aufbruch: modern, kreativ, in aller Munde. Ein wachsendes kulturelles Selbstbewusstsein, gepaart mit einem dynamischen Arbeitsmarkt und vergleichsweise günstigen Lebenshaltungskosten, hat eine lebendige, innovative Szene hervorgebracht. Alte Industriebrachen wurden zu Kreativzentren, ehemalige Schmuddelviertel zu Hotspots für Galerien, Bars und Boutiquen. Und wo früher Wodka gebrannt wurde, finden sich heute Tech-Start-ups, Ateliers und Apartments.

Und so finde ich mich nur Stunden nach meiner Ankunft in einer ganz anderen Stadt wieder – noch immer grau und regnerisch, aber plötzlich auch farbenfroh und voller Leben. Warschau ist cool geworden, und zwar so richtig. Ein bisschen wie Berlin, aber ohne die nervige Attitüde, um es in den Worten einer Freundin auszudrücken. Und Warschaus Cool Kids wissen um ihr Momentum. Sie brauchen nicht mehr nach Paris und New York zu schauen, um sich diktieren zu lassen, was gerade angesagt ist. Sie machen ihre Meinung selbst – als selbstbewusste Stimme Europas. Als Menschen mit Stil und Gespür und mit Köpfen voller Ideen.

Symbolisch für diese neue Energie steht das Ende Oktober 2024 eröffnete Museum of Modern Art – das Muzeum Sztuki Nowoczesnej w Warszawie, oft kurz MSN Warszawa genannt. Gegründet wurde es 2005 mit dem Ziel, der zeitgenössischen Kunst Polens und Mittelosteuropas eine eigene, starke Bühne zu geben. Mangels eigener Lokalität fanden seine Ausstellungen in temporären Räumlichkeiten statt. Diese «provisorischen Jahre» haben das Profil des Museums geprägt. So war das MSN von Anfang an weniger kulturelle Hochglanzinstitution und mehr Ort für Auseinandersetzung, Reibung und kritischen Diskurs. Seit 2024 hat es nun endlich sein lang erwartetes eigenes Zuhause: einen imposanten, vom renommierten New Yorker Architekturbüro Thomas Phifer and Partners entworfenen Neubau in direkter Nachbarschaft zum sozialistischen Koloss des Kulturpalastes. Seit dessen Eröffnung hat das radikal aktuelle Programm schon manch nationale Debatte angestossen. In einem Land, das politisch oft zwischen Liberalität und Konservatismus pendelt, ist es ein Ort, der aufzeigt, wie reflektiert, wach und kritisch die junge polnische Kulturszene ist – und wie ihr hartnäckiges Hinterfragen der Vergangenheit die kulturelle Identität von morgen formt.

Bei aller neuer Energie ist Warschau jedoch noch immer Hauptstadt eines Landes, das Traditionen wertschätzt. Polen ist eine Nation, die vielfach mit seiner konservativen Regierung und der kirchlich geprägten Gesellschaft assoziiert wird. Warschau gilt als liberaler Gegenpol, und doch ist man polnisch, bleibt man polnisch und zeigt dies mit Stolz. Die letzten Jahre sind viele international Erfolgreiche in die Stadt ihrer Wurzeln zurückgekehrt. Designer, Filmemacherinnen, Köchinnen und Kunstschaffende haben sich bewusst wieder für Warschau statt London oder Berlin entschieden. Sie sprechen von einer tiefen Verbindung zur Heimat und dem dringenden Bedürfnis, deren Zukunft zu formen, mitzuentscheiden, was bewahrt werden sollte und was vergehen und verschwinden darf.

Dieses neu gefundene selbstbewusste Verhältnis zur eigenen Tradition zeigt sich besonders schön in der Gastronomie. In den vergangenen Jahren hat sich Warschau rasant zum kulinarischen Hotspot Osteuropas entwickelt – und zwar durch Rückbesinnung auf traditionelle Gerichte und kulinarisches Erbe, kombiniert mit moderner Präsentation und hochwertiger Produktqualität. Klassiker wie Pierogi (gefüllte Teigtaschen), Bigos (Jägereintopf), Žurek (Sauermehlsuppe) oder Gołąbki (gefüllte Kohlrouladen) erleben eine Renaissance und werden in schicken Fine-Dining-Lokalen wie dem «Opasły Tom» neu interpretiert. Genau wie in allen anderen Bereichen gilt auch in der Gastronomie die tiefe Überzeugung, dass man bereits alles hat, was man braucht – man muss es nur entstauben und aufs Neue schätzen lernen.

Und so trifft man sich heute wieder auf Hering und Wodka in Institutionen wie dem «Gessler» und bespricht Ideen und Projekte, anstatt über ein Glas Wodka gebeugt vom Ausland zu träumen. Warschau selbst ist zur Bühne geworden, und wer hierbleibt, bleibt nicht aus Mangel an Alternativen, sondern weil man hier genau das findet, was man anderswo lange gesucht hat – eine Szene mit Hunger nach Zukunft. Als Besucher sitzt man daneben und wünscht sich heimlich, man wäre Teil davon.

In Warschau spürt man die Kraft des Neuanfangs, immer und überall – nicht als Lifestyle, sondern als Teil der kulturellen Identität. Vielleicht ist es genau diese Mischung aus Narben und Neubeginn, die der Stadt eine Energie verleiht, wie man sie eben nur an denjenigen Orten findet, die sich immer wieder neu erfinden müssen.

CHECK-IN

Hotel Warszawa Das Fünfsternehotel ist im ehemaligen Prudential-Hochhaus untergebracht, einem der bedeutendsten Gebäude der Stadtgeschichte. In den auf 16 Etagen verteilten 142 individuell gestalteten Zimmern und Suiten regieren Stein, Marmor, Holz, Kupfer, Beton und Glas. DZ ab Fr. 185.–. warszawa.hotel.com.pl

Hotel Puro Die polnische Designhotelgruppe ist mit zwei Häusern in der Stadt vertreten: dem Puro Centrum sowie dem Anfang dieses Jahres eröffneten Puro Stare Miasto in der Altstadt. Beide sind sehr stilvoll eingerichtet und perfekt positioniert für ein entspanntes Erkunden der Metropole. DZ ab Fr. 250.– bzw Fr. 145.–. purohotel.pl

Nobu Hotel Warsaw Das Fünfsternehotel im Stadtteil Śródmieście kombiniert modernes japaisches Design mit originalgetreu restaurierter Art-déco-Architektur. Neben 116 modernen Zimmern beherbergt es das renommierte Nobu-Restaurant. DZ ab Fr. 128.–, nobuhotels.com

GOURMET

Bar Rascal Die Bar im modernistischen Gebäude der nationalen Ballettschule ist der Hotspot der Cool Kids. Mit über 450 Naturweinen ist sie die grösste Naturweinbar Polens und eine der bedeutendsten weltweit. barrascal.com

Wódka Gessler Na Widelcu Weisse Tischdecken, grüne Samtstühle, Live-Pianomusik: Die Warschauer Institution «Gessler» serviert einem kunterbunten Mix von Gästen traditionelle polnische Gerichte in eleganter Atmosphäre. gessler.pl

Opasły Tom Das renommierte Fine-Dining-Restaurant hat sich mit seiner innovativen Interpretation der polnischen Küche einen Namen gemacht. Das von Buck Studio entworfene Interieur umfasst unter anderem einen Barbereich mit Leseecke. kregliccy.pl

KULTUR

Muzeum Sztuki Nowoczesnej w Warszawie Das MSN ist das bedeutendste Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Polen. Die Sammlung umfasst über 7000 Werke, darunter Gemälde, Skulpturen, Fotografien, Installationen und multimediale Arbeiten. Die wechselnden Ausstellungen präsentieren sowohl polnische als auch internationale Künstler. artmuseum.pl

Galerie Objekt Die Galerie von Designerin Aleksandra Krasny ist die erste Polens, die sich auf Collectible Design spezialisiert hat. Die Ausstellungen wechseln alle zwei Monate und bieten einen Einblick in die Vielfalt und die Kreativität der polnischen und internationalen Designszene. objekt.gallery

Magda Butrym Spätestens seit ihrer Gastkollektion für H&M ist die polnische Modedesignerin in der ganzen Welt bekannt. Ihre Flagship-Boutique in Warschau, die in Zusammenarbeit mit dem schwedischen Architekturbüro Stamuli entworfen wurde, ist der schönste Ort, um ihre femininen Designs zu entdecken. magdabutrym.com

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