Die Entwicklung des Stuhls

Sitzen – unser Wohl und unser Übel

Aus medizinischer Sicht sitzen wir zu lange. Doch wenn unser Leib nicht fürs Sitzen gemacht ist, wieso sitzt es sich dann so angenehm?

Designgeschichte: Stuhl

Die produktivste wie auch die nutzloseste Zeit unseres Lebens verbringen wir mit angewinkelten Beinen und dem Gesäss auf Grund. Während der Sternstunden seiner Geschichte sass der Mensch: Isaac Newton (1643-1727) formulierte die Gravitationsgesetze am Schreibtisch, und Emily Dickinson (1830-1886) schrieb ihre 1800 Gedichte gewiss nicht im Stehen. Die Zivilisation wäre nicht, wo sie ist, hätte sich der rastlose Mensch nicht hie und da hingesetzt, um intensiv nachzudenken. Gleichzeitig verschwenden wir unzählige Stunden in einem Sessel versunken, mehr tot als lebendig. Wie viele Heilmittel werden nicht gefunden, weil eine mittelmässige Serie auf Netflix in die achte Staffel geht; wie viele Errungenschaften bleiben unfertige Gedanken, weil es auf dem Sofa gemütlicher ist als im Labor? Zu unserem Wohl und zu unserem Übel: Das Hinterteil ziehts zur Erde.

Wir hocken, noch bevor wir liegen oder stehen. Während Monaten kauern wir wunschlos im Mutterleib, ehe man uns ohne Vorwarnung in diese Welt entfaltet. Und dann liegen wir hilflos ausgestreckt da, bis unser Körper die Kraft aufbringt, sich wieder in die geliebte Sitzposition zu begeben. Die Hocke scheint die natürlichste der menschlichen Haltungen zu sein. Es verwundert daher nicht, dass in der Stein- und Bronzezeit die Bestattung von Verstorbenen in kauernder Position üblich war. Das Sitzen ist die jüngste Stufe der Evolution der tierischen Körperhaltung. Der Mensch ist zwar nicht das einzige sitzende Lebewesen, aber nur der Mensch sitzt, weil er aufrecht gehen kann. Die doppelte Krümmung der Wirbelsäule erlaubt ihm die aufrechte Position. Weil diese aber instabil und daher anstrengend ist, muss sich der Mensch zur Erholung immer wieder hinsetzen.

Worauf man sich setzt, ist zunächst eine Frage von Gewohnheit und Sitte. In einigen Kulturkreisen ist ein Teppich oder eine Matte als Sitzunterlage üblich, in anderen hat man sich angewöhnt, das Gesäss mit einer Konstruktion vom Boden fernzuhalten. So wird das Sitzen zum Designproblem. Weil es nicht nur eine mögliche Sitzposition gibt, muss sich die Konstruktion unter dem menschlichen Hinterteil dem jeweiligen Bedürfnis anpassen. Sitzend lässt sich nämlich alles Mögliche tun, weshalb sich das Sitzgestell im Verlauf seiner Geschichte auf verschiedene Funktionen spezialisiert hat. Für jede sitzend ausgeführte Tätigkeit und Untätigkeit findet sich das passende Möbel: fürs Essen, Arbeiten, Spielen, Fahren, Fliegen, das Verschnaufen, Warten, das Schaukeln und so weiter. Die unterschiedlichen Funktionen schliessen sich oft aus: Ebenso wenig, wie es sich auf einem einbeinigen Melkschemel sitzend entspannen lässt, eignet sich der Massagesessel fürs Campieren.

Die längste Zeit seiner Entwicklungsgeschichte sass der Mensch nur auf den Sitzgelegenheiten der Natur. Ein Stein, ein Baumstamm oder der Erdboden mussten als Sitzunterlage ausreichen. Für unsere nomadisch lebenden Urahnen gab es keinen Anlass, sich ein mühsam zu transportierendes Sitzmöbel zu bauen. Eine der frühesten Darstellungen einer sitzenden Figur stammt aus Südanatolien und zeigt eine gebärende Göttin. Vermutet wird, dass die Erhöhung, auf der das üppige Gesäss der Göttin ruht, den Kosmos symbolisiert, der durch die Geburt erneuert wird. Aus dem kosmischen Sitz wurde später der Thron als Symbol der allmächtigen Ordnung.

Die Geschichte des künstlichen Sitzes ist kaum 5000 Jahre alt. Obschon gezimmerte Holzbänke bereits seit der Jungsteinzeit bekannt sind, waren künstliche Sitzgelegenheiten lange keine allgemein gebräuchlichen Möbel. In der Antike repräsentierte der Stuhl Macht und war lange den Herrschenden vorbehalten. Seine Autorität zeigt sich noch heute: Richterin und Richter sitzen auf dem Richterstuhl, der Papst repräsentiert den Heiligen Stuhl, ein Professor oder eine Professorin wird auf den Lehrstuhl berufen. Bis in die Renaissance thronten nur die Oberen, während die einfachen Leute bestenfalls auf harten Bänken und Hockern ohne Lehne Platz nahmen. Erst ab dem 16. Jahrhundert war das Sitzen auf Stühlen allmählich auch dem gemeinen Volk gestattet.

Unter den geläufigen Sitzmöbeltypen – Hocker, Bank, Stuhl, Sessel, Sofa – ist der Stuhl aus Designperspektive besonders interessant, weil er im Verlauf der Geschichte die grösste Formenvielfalt entwickelt hat. Er ist kein blosser Gebrauchsgegenstand; jeder einzelne seiner Art ist ein Objekt mit eigenem Charakter. Kein anderes Möbel besitzt derart viel Gestaltungspotenzial. Der Grund liegt unter anderem in seiner komplexen Konstruktion. Ein Regal besteht im Prinzip aus nicht mehr als ein paar horizontal befestigten Brettern, ein Tisch aus einer simplen Platte mit Beinen. Der Stuhl dagegen setzt sich aus einer verstrebten und gestützten Sitzfläche und einer Lehne zusammen, die einen wankenden menschlichen Körper balancieren müssen.

Auch besitzt der Stuhl so viel Persönlichkeit, weil er sich enger als andere Möbel an der Körperform orientiert: In seinen Proportionen drückt sich die menschliche Figur aus. Nicht zufällig fällt die erste Hochblüte des Möbeldesigns in Europa mit dem Beginn der wissenschaftlichen Untersuchung der Körperhaltung zusammen. Mitte des 19. Jahrhunderts flossen erste ergonomische Erkenntnisse in die Entwürfe von Möbeltischlereien ein – mit teilweise ungeahnten Konsequenzen. Der Orthopäde Franz Staffel glaubte zum Beispiel, dass Stehen gesundheitsschädlich sei. Er riet deshalb zu möglichst langem Sitzen in straffer, rechtwinkliger Haltung. Sein 1884 eingeführter Staffelstuhl mit federnder Lehne im Bereich des Kreuzes wurde zum Vorbild für Generationen von Designern.

«Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.» – Astrid Lindgren, Schriftstellerin (1907-2002)

Weil ein Stuhl von unterschiedlichen Personen genutzt wird, hat man immer wieder versucht, die Grössenverhältnisse von Möbeln zu standardisieren, indem man nach den Massen des idealen Durchschnittsmenschen suchte. Der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier (1887-1965) nahm bei der Proportionierung seiner Räume und Möbel eine Körpergrösse von 1,829 Metern an. Das von ihm entwickelte Masssystem Modulor sagt dabei mehr aus über Corbusiers Vorstellung von harmonischen Verhältnissen als über reale Menschen. Diese entsprechen keinem Standardmass; es gibt sie in allen Grössen und Formen.

In der Moderne haben vor allem Innovationen im Materialbereich die Verwandlung des Sitzmöbels vorangetrieben. An seiner Konstruktion lässt sich oftmals die Entstehungszeit ablesen. Die geschwungenen Linien des Kaffeehausstuhls etwa wurden nur möglich, weil im Wien der 1830er-Jahre der deutsch-österreichische Tischlermeister Michael Thonet (1796-1871) das Verfahren entwickelte, mithilfe von Wasserdampf Holz in Form zu biegen. Die noch heute geschätzten minimalistischen Stahlrohrstühle der Bauhaus-Ära wiederum gehen auf Entwürfe von Marcel Breuer (1902-1981) zurück, der in den 1920er-Jahren die Idee verfolgte, Möbel für die Arbeiterschicht kostengünstig in Fabriken fertigen zu lassen. Das Weltraumzeitalter brachte dann gerundete Kunststoffmöbel in allen Farben, die das Wohnen in der Zukunft erlebbar machen sollten. Heute erlauben digitalisierte Entwurfs- und Herstellungsverfahren das Drucken und Giessen von Stühlen. Damit können statische Schwachstellen an den Verbindungen von Beinen, Zargen und Sitzfläche überwunden werden, die traditionell geleimt, gedübelt oder geschraubt werden mussten. So richtet sich also jedes Sitzmöbel an den Möglichkeiten und Limitierungen des zur Verfügung stehenden Materials aus.

Das 20. Jahrhundert hat den Menschen dann endgültig zum sitzenden Wesen gemacht. Im Zug der Rationalisierung von Arbeitsprozessen wurde er als Produktionsfaktor erkannt. Um seine Leistungsfähigkeit zu steigern, sollten Arbeiten wo immer möglich im Sitzen ausgeführt werden. Mit dem Ziel, Ermüdungserscheinungen zu verhindern, wurden Arbeitsstühle für Werkstatt und Büro konzipiert. Der heutige Bürostuhl hat dabei wenig mit seinen Vorfahren gemein. Dank produktionstechnischen Fortschritten und einem besseren Verständnis der menschlichen Anatomie ist er heute ein ausgeklügeltes Sitzgerät, das sich an die spezifischen Bedürfnisse jedes einzelnen Körpers anpasst.

Das ändert nichts an der Tatsache, dass wir noch immer unter dem gleichen produktiven Sitzzwang leben wie vor hundert Jahren. Nicht stehend, nicht liegend, sondern sitzend verbringen wir die meiste Zeit des Tages – im Durchschnitt zehn bis elf Stunden. Wir wissen, dass das ungesund ist: Das Gehirn erhält zu wenig Sauerstoff, der Blutdruck steigt, die Muskeln in Rücken und Bauch verkümmern, und die Wirbelsäule wird instabil. Der Körper droht in sich zusammenzufallen und zwischen zwei Sofakissen allmählich zu verschwinden. Das Leid des sitzenden Menschen ist seit Langem bekannt. Weil wir aber das Sitzen nicht mehr aufgeben können, wurden Kniesitze, Sitzbälle und Stehhocker (schon Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) besass einen) erfunden, um Rückenschmerzen vorzubeugen. Gebracht hat das aber wenig: 88 Prozent der Erwachsenen in der Schweiz gaben 2020 an, in den vorangegangenen zwölf Monaten an Rückenschmerzen gelitten zu haben.

Weil wir so viel Zeit auf unserem Gesäss verbringen, lohnt es sich, das Sitzmöbel sorgfältig zu wählen. Dabei dürfen uns nicht nur funktionale Erwägungen leiten, denn auf etwas zu sitzen, ist ein sinnliches Erlebnis: Wir fühlen das leichte Nachgeben der Rückenlehne, hören das Knirschen des Korbgeflechts. Und während wir nicht darauf ruhen, sehen wir das Objekt; dann wird das Sitzgefühl zur Nebensache, und nur noch die Form zählt. So sind gewisse Objekte ungeeignet, darauf Platz zu nehmen, verschönern aber als Skulpturen den Raum und heitern uns auf.

Am Ende sind für das Glück des Sitzenden aber die Umstände wichtiger als Form und Funktion des Sitzmöbels. Niemand würde darauf verzichten, im Sommer mit einem Eis am See zu hocken, nur weil Hautfalten zwischen den straffen Schnüren des Spaghettistuhls klemmen. Unsere allerliebsten Sitzmöbel halten sich oft namenlos im Unter- und Hintergrund. Vielleicht sitzen wir ja am glücklichsten auf einer durchgesessenen Couch, die sich an das Backenfleisch erinnert, das sich allabendlich in sie drückt. Solange die Gesetze der Schwerkraft gelten, will unser Körper sich setzen. Gönnen wir ihm das!

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