Der Edelpunk der Fotografie

Er vermischt konsequent Kommerz und Kunst, Privates und Öffentliches, Banales und Edles – und ist so zu einem der weltweit gefragtesten Fotografen geworden. Eine Recherche zum Lebenswerk von Juergen Teller.

JUERGEN TELLER

Seine Fotografie ist so verrückt und flamboyant, so sinnlich und verletzlich wie sein Leben. 1964 geboren und aufgewachsen in einer Geigenbauerfamilie im mittelfrän­kischen Kaff Bubenreuth, muss Juergen Teller die Lehre im elterlichen Betrieb wegen einer Holzstauballergie abbrechen. Er studiert stattdessen Fotografie in München und flüchtet mit 22 Jahren nach London. Vor dem Militärdienst – und vor dem alkoholkranken Vater, der regelmässig die Mutter verhaut. Wenig später bringt sich sein Vater um, indem er gezielt gegen einen Baum rast. Zeitlebens begleitet Teller eine ambivalente Bindung an diesen so stummen wie unglücklichen, gewalttätigen Vater.

«Mein Vater hat nie mit mir gesprochen», notiert Juergen Teller im Rückblick. «Nicht ein einziges Mal hatten wir ein Gespräch. Als ich sechzehn war, bin ich per Anhalter nach Sizilien gefahren. Ich wollte möglichst weit weg von zu Hause. Bevor ich ging, stand mein Vater plötzlich vor mir mit seiner geliebten Kamera in der Hand und sagte: ‹Mach auf deiner Reise ein paar Fotos.› Ich hasste ihn. Ich lehnte seine Geste ab und ging. Seltsam, wie das Leben spielt. Heute bin ich Fotograf.» Und ergänzt: «Zu Hause lief ich immer geduckt rum, denn jeden Moment konnten die Dinge explodieren. Das hat mich zu einem extrem guten Beobachter gemacht. Ein Blick genügte, und ich wusste, was los war. Heute kommt mir das beim Fotografieren zugute. Ich wittere die Aura eines Menschen, deshalb mache ich ziemlich gute Porträtfotos.»

Nackt an Vaters Grab

In der Ausstellung «I Need to Live», die aktuell in Mailand zu sehen ist und die wie ein Rundgang durch Tellers bewegtes Leben wirkt, stehen nun zwei Bilder symbolträchtig ganz am Anfang: eines von Baby Juergen, das der Vater und leidenschaftliche Hobbyfotograf von seinem einzigen Sohn geschossen hat, und das Bild des Autowracks, in dem Walter Teller mit knapp siebenundvierzig Jahren ums Leben kam.

Fünfzehn Jahre nach dem Suizid schiesst Juergen Teller ein Selbstporträt von sich am Grab des Vaters, splitternackt, die Bierflasche am Mund, eine Zigarette in der Hand und das Bein auf einen Fussball gestützt. Was höchst pietätlos wirken kann, ist für den Sohn eine Hommage an den trotz allem geliebten Vater. «Ich musste dieses Bild machen, um meiner selbst willen», sagt er. «Ich weiss natürlich, wie hart das Motiv ist, aber es war eine tiefe Sehnsucht in mir nach meinem Vater, ich wollte ihm nah sein. Das Foto war ein Versöhnungsangebot. Ich wollte meinen Frieden mit ihm machen und ihm zeigen, dass ich auch meine Probleme mit Sucht habe.»

Aber greifen wir nicht vor. Zur Zeit des väterlichen Suizids lebt der junge Teller ohne Geld in der britischen Hauptstadt. Wenn er die Miete nicht zahlen kann, schläft er im Auto. Doch er findet im Swinging London der späten 1980er-Jahre schnell Anschluss in der Musikszene und begleitet die damals noch unbekannte Band Nirvana auf ihrer Konzerttour durch Deutschland. Dort entstehen die ersten magischen Bilder der späteren Kultband und ihres charismatisch traurigen Frontsängers Kurt Cobain. «Ich war so schüchtern, dass ich erst nach drei Tagen den Mut hatte, ein Foto zu machen», sagt Teller.

In diesen Anfangszeiten fotografiert er auch Musiker wie Elton John oder Simply Red und schafft das ikonische Plattencover zum Welthit «Nothing Compares 2 U» von Sinéad O’Connor.

Glück und Zufälle begleiten auch weiterhin sein Leben. Neugierig wie ein Simplizissimus bekommt der Noch-No-Name dank seiner ersten Ehefrau Venetia Scott, einer erfolgreichen Fashion-Stylistin, Zugang zur Modeindustrie. Tellers unverstellter, scheinbar naiver Blick, der sich gar nicht besonders für Kleider interessiert, macht Furore. Er ist mehr der dokumentierende Reporter als der Modefotograf, einer, der das Umfeld mit in den Fokus nimmt, den Trash statt den Hochglanz, die Persönlichkeit der erschöpften, ungeschminkten Models, die Leere des Scheins.

Kleiderwerbung ohne Kleider

Den Durchbruch von Juergen Teller markiert 1996 das ungeschönte Bild des nackten Supermodels Kristen McMenamy nach einem auslaugenden Catwalk-Marathon. Mit Lippenstift hat Teller ihr ein rotes Herz samt Versace-Schriftzug auf die Brust gemalt, ihr Blick ist leer, eine Zigarette im Mundwinkel hängend, lehnt sie lässig an einen Türrahmen, auch die Blinddarmnarbe wird natürlich nicht kaschiert. Kleiderwerbung ohne Kleider: Das hatte die Welt so noch nicht gesehen. Ab da rennen ihm die Labels die Türen ein, von Helmut Lang über Marc Jacobs, Miuccia Prada, Phoebe Philo bis zu Comme des Garçons oder Hedi Slimane. Dabei fällt das Echo in der Modewelt anfangs zwiespältig aus. Manche finden die Bilder abstossend oder fürchten um die Karrieren der so «unschön» abgelichteten Models. Vor allem Make-up-Künstler empören sich. Aber genau gegen diesen kalten Perfektionismus der damaligen Zeit waren Tellers Bilder gerichtet.

Über die Jahre bekommt der Deutsche sie alle vor seine Linse. Schauspielerinnen, Designer, Models, Künstlerinnen, Filmemacher, Architekten, Musikerinnen, Schriftsteller und Celebritys aller Sparten: George Clooney, Yves Saint Laurent, Charlotte Rampling, Agnès Varda, Tilda Swinton, Karl Ove Knausgård, Cindy Sherman, Steve McQueen, Vivienne Westwood, Kim Kardashian oder Iggy Pop – um nur ein paar wenige zu nennen.

Juergen Tellers Bilder verstossen seit seinen Anfängen eklatant gegen die Regeln des gehobenen Fotohandwerks, sind grell überbelichtet vom Blitzlichteinsatz, bedienen die Unschärfen der Schnappschuss-Ästhetik, sind scheinbar ohne durchdachte Komposition. Der Fotograf zeigt die Welt bewusst alltäglich, rau und oft irritierend stilwidrig, changiert zwischen Inszenierung und Spontaneität, erzählt von Unordnung, Intimität und Zusammenbruch. «Die Welt ist schön, so wie sie ist», sagt Teller. «Warum sollte ich sie retuschieren?»

Und sein schräger, alternativer Blick auf die Mode- und Porträtfotografie scheint ein grosses Verlangen nach Authentizität zu befriedigen. Teller-Fotos widersprechen den gängigen Klischees von Schönheit. Sind bis ins kleinste Detail durchkomponiert, aber sehen nicht so aus. Kate Moss fotografiert er bereits als Fünfzehnjährige und gehört damit zu den Entdeckern des rebellischen Sondercharmes des späteren Supermodels. Abseits der offiziellen Eleganz entdeckt er bei ihr Züge von Verletzlichkeit, Fragilität, Schüchternheit und Melancholie. Ihn interessiere generell die Persönlichkeit hinter der modischen Verkleidung, betont Teller. Und etwas pathetisch verkündet der Franke: «Ich habe es geschafft, die Person, die die Kleidung trägt, zu humanisieren.»

Warum Handtaschen?

Warum nur fotografiert er dann endlos Handtaschen und veröffentlicht sie in zwei überdimensionierten Bänden, die sich erstaunlich gut verkaufen? «Ich mag Handtaschen. Sie lassen mich ich sein. Sie geben keine Widerworte. Sie beschweren sich nicht. Es macht ihnen nichts, wenn es zu heiss oder zu kalt ist. Und man fotografiert oft aufregend gute Leute, die sie in der Hand halten. Ausserdem sind sie nun einmal das Brot-und-Butter-Geschäft, für die Leute von LVMH genauso wie für mich. Wir alle leben von ihnen. Also habe ich meinen Leuten im Studio gesagt: Wir machen noch ein Handtaschenbuch. Sie haben mich ungläubig angeschaut.» Auch Selbstironie kann der Mann.

Sein doppelbödigstes Handtaschenbild ist sicher das Marc-Jacobs-Kampagnenmotiv mit Victoria Beckham aus dem Jahr 2007. Aus einer riesigen Einkaufstüte ragen die gespreizten Beine einer kopflosen Frau heraus – als würde sie auf einem Gynäkologiestuhl sitzen. Wie hat Teller sie dazu gebracht? «Victoria ist eine sehr clevere Frau, ich bin mir aber nicht sicher, ob sie den tieferen Sinn des Fotos so ganz verstanden hat. Ihr Kalkül war: Wenn ich mich auf dieses Spassfoto einlasse, werde ich in der Modewelt endlich ernst genommen. Ich verschaffe mir ein neues Image, indem ich beweise, dass ich mich über mich selbst lustig machen kann.» Selbstironie als Marketingstrategie.

Man kann dieses Bild durchaus konsumkritisch lesen. Ist dadurch, dass die Frau das freiwillig macht, der Vorwurf des offensichtlichen Sexismus bereits weggewischt? Die kopflose Frau als Ware und Objekt zum Wegtragen? Verfügbar zum Gebrauch?

Juergen Tellers Werk ist voll von Aufnahmen, über die man trefflich streiten kann. Kim Kardashian wollte sich von ihm in einem französischen Schloss fotografieren lassen – das war dem Kontrastliebhaber aber zu geleckt. Also liess er sie in Strümpfen und High Heels einen nahen Sandhügel raufkraxeln. Das Bild ging um die Welt. Teller selbst hat sich lediglich gewundert, dass die Reality-TV-Queen ihr Markenzeichen – den ausladenden Hintern – unbedingt etwas kleiner retuschiert haben wollte …

Nackt im Louvre

Eine besonders enge Liaison verbindet den Fotografen mit der Schauspielerin Charlotte Rampling. Sie posierte für ihn nicht nur nackt vor der «Mona Lisa» im nächtlichen Louvre, sondern feierte mit ihm auch ein ausgedehntes Kaviarshooting im Pariser Luxushotel De Crillon. Teller legte sich dabei nackt mit gespreizten Pobacken auf den Flügel, an dem die Rampling spielte. Wie ist es zu dieser Verbindung mit der zwanzig Jahre älteren Grande Dame des anspruchsvollen Kinos gekommen?

«1996 sollte ich Charlotte für das Magazin der französischen Zeitung ‹Libération› fotografieren», sagt Teller. «Ich war mordsnervös, weil ein Traum von mir in Erfüllung ging. Charlotte Rampling, das war für mich ‹Nachtportier› und die berühmten Fotos von Helmut Newton. Sie war ein harter Knochen, es war überhaupt nicht lustig.» Zur Begrüssung habe sie nur gesagt: «Hallo. Sie haben zehn Minuten.» Und Teller dachte: «Fuck, das wars. Aber dann war ich clever und sagte: ‹Wenn Sie zehn Minuten haben, nehmen Sie sich fünf Minuten, und schauen Sie mein Buch an. In den verbleibenden fünf Minuten machen wir dann die Fotos.› Als sie das Buch zuschlug, sagte sie: ‹Nehmen Sie sich so viel von meiner Zeit, wie Sie brauchen.›» Später hätten sie sich auf der Beerdigung einer gemeinsamen Freundin wiedergesehen. «Sie erzählte, ihre Schwester habe sich umgebracht, und dann habe ich halt gesagt, dass sich mein Vater auch umgebracht hat. So entstand eine Intimität zwischen uns.»

Juergen Tellers Arbeiten sind nicht nur Momentaufnahmen, sondern oft sehr narrativ, erzählen Geschichten in diversen Stimmungen, mit Hinter-, Über- und Untergrund, haben etwas Performatives, absurd Theatralisches. Gern nennt der Deutsche sich deshalb «Story-Teller» – denn es gibt viele lustige Geschichten zu seinem Werk. Einmal etwa will Tiffany eine Schmuckkollektion von ihm fotografiert haben, er aber hat keine Lust, nach New York zu fliegen. Also lässt er sich die Ware in sein Heimatkaff Bubenreuth schicken und hängt die Klunker dort an den Hals seiner Tante in der Küchenschürze und an weitere Personen aus seiner bäuerischen Umgebung. Geht mehr subversiver Verfremdungskontrast?

Zur Hochzeit mit seiner dritten Frau, dem Ex-Model Dovile Drizyte, lädt das Brautpaar hundert Gäste zum Fest nach Neapel und produziert dazu den Fotoband «Auguri» unter dem Motto: Wir bauen zusammen unsere Zukunft. Die Frischverheirateten inszenieren sich in ihrem visuellen Tagebuch als Strassenbauarbeiter mit Schutzhelmen und Signaljacken. Ein originelles und werktätiges Gegenbild zum sonstigen Hochzeitskitsch vom «schönsten Tag im Leben»? Oder vielleicht doch auch etwas anmassend und zynisch den wirklichen Strassenarbeitern gegenüber?

Selbstverwirklichung

Teller ist ein Pendler zwischen den Genres, zwischen Kommerz und Kunst, Ernst und Spass, Höhenflug und Falltiefe. Selber bezeichnet er sich weder als Mode- noch als Kunstfotograf. Wo fühlt er sich am ehesten daheim? «Das eine hilft mir, im anderen gut zu sein», meint er. «Oft führen mich die Dinge, die ich für mich selbst mache, zu einer Idee, die ich dann im kommerziellen Bereich umsetze. Und das Business wiederum gibt mir Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, von denen ich nie zu träumen gewagt habe.»

In den letzten Jahren inszeniert sich der Story-Teller in seinen Bildern zunehmend selbst. Narzissmus? Langeweile? Es mache tatsächlich müde, ständig mit komplizierten Egos und Eitelkeiten umgehen zu müssen, meint er. «Celebritys bedeuten unheimlichen Stress, und der schlägt mir auf den Magen. In Interviews erzähle ich immer, ich hätte einen easy Job und alles sei totaler Fun. Die Wahrheit ist, es ist fucking anstrengend. Wie fotografiert man eine neue Handtasche, wenn man wie ich seit 25 Jahren Handtaschen fotografiert?» Er leide, wenn er solche Probleme lösen müsse, und wache morgens um vier in Panik auf, weil er sich viel zu viel Druck mache. «Ich kann keinen Job einfach so runterrotzen und mit dem Check nach Hause gehen. Deshalb habe ich mir gesagt, du fängst jetzt mal an, dich selber zu fotografieren, da kann dir niemand reinreden. Ich wollte auch mal wissen, wie es sich körperlich anfühlt, von mir fotografiert zu werden.»

Und warum zeigt er sich auf seinen Selbstporträts oft nackt? «Ein grosser Teil meiner Arbeit ist Modefotografie. Deshalb will ich mit Mode nichts zu tun haben, wenn ich mich selber fotografiere. Es soll keinen Dresscode geben, weil alles, was du anhast, ein Statement ist.»

Aber keine Sorge, nicht alles in Tellers Schaffen ist schrill, grotesk oder egozentrisch. Es gibt viele dieser wunderbar sanften, zugewandten Bilder wie jenes von der Sängerin Björk mit ihrem Sohn im heissen Bad auf Island. Da ist ein Zauber der Innigkeit, die nur aus grossem gegenseitigem Zutrauen erwachsen kann.

Infobox

Juergen Teller hat über 50 Bücher veröffentlicht und seine Arbeiten weltweit in zahllosen Ausstellungen gezeigt. Er lebt mit seiner Familie in London.

Die Ausstellung «I Need to Live» an der Triennale in Mailand ist die bisher grösste und umfassendste von Juergen Teller und zeigt mehrals 1000 Werke. Bis 1. April.

Ihr Newsletter von BOLERO

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie noch mehr Mode-, Lifestyle- und Kultur-News direkt in Ihr Postfach!

Mehr laden