Ein Stern geht auf

Eine junge Schweizer Autorin räumt überraschend Preise in Deutschland und Österreich ab – mit Tempo und unglaublichem Sprachwitz, mit Schmerzstoffen und quirliger Queerness. Eine Begegnung mit der Fantasieschöpferin Leonie Lorena Wyss.

Ein Stern geht auf

Das gab es so noch nie. Eine 26-jährige Studentin holt sich innert weniger Wochen mit zwei grundverschiedenen Theatertexten die beiden wichtigsten Dramapreise von Deutschland und Österreich. Im Mai 2023 gewinnt Leonie Lorena Wyss (*1997) mit ihrem Debüt «Blaupause» den Preis als beste Autorin am Heidelberger Stückemarkt, wenige Wochen später wird ihr inGraz auch der renommierte Retzhofer Dramapreis für ihr Zweitstück «Wie von Mutterhand» (Arbeitstitel) zugesprochen.

Wie geht das? Hat da jemand den Dreh raus, was Jurorinnen und Juroren heute lesen wollen? Trifft hier eine Newcomerin den Zeitnerv mit einem Ton, den man so bisher nicht gehört hat? Kann man einen solchen Blitzstart aus dem scheinbaren Nichts überhaupt erklären? Man kann. Auf verschiedenen Wegen.

Berührend reflektierte Stücke

«Blaupause» ist eine so wirblige wie nachdenkliche Coming-of-Age-Geschichte zu weiblicher Sozialisation und lesbischer Liebe, grundiert von einer tiefen, schmerzlichen Verlusterfahrung – und doch immer wieder durchbrochen von aberwitzigen Bildern und Szenen. Der jungen Autorin gelingt ein klanglich und rhythmisch hochsinnlicher Text von grosser Musikalität. Welches war denn das schönste Kompliment, das die aus Basel stammende Jungautorin für ihr Debüt bekommen hat?

Nach der szenischen Lesung in Heidelberg seien sehr viele Personen zu ihr gekommen, die das Stück berührt habe und die von eigenen Erfahrungen berichtet hätten, erzählt sie. «Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist mir jedoch eine Person, die meinte: ‹Danke! Ich wünschte so sehr, ich hätte den Text schon viel früher gekannt.›» «Blaupause» sei ihr bisher persönlichstes Werk. «Ich habe ein wenig das Gefühl, dass ich dieses Stück schreiben musste, bevor ich etwas anderes schreiben konnte.»

Ihr zweiter Theatertext «Wie von Mutterhand» dreht sich um drei Geschwister und deren Beziehung zur psychisch erkrankten Mutter. Diese Mutterfigur beschäftigt die Autorin sehr: «Aufgrund ihrerErkrankung bricht sie mit der Vorstellung einer ständig präsenten, jederzeit zur Selbstaufgabe bereiten Schutzfigur. Das scheint mir noch immer ein grosses Tabu zu sein.»

Am Sterbebett der suizidalen Mutter geraten die drei Geschwister ins Erzählen über die eigene Kindheit, erinnern sich an Momente, in denen sich der Suizidversuch bereits wie die Spitze eines Eisbergs als unheilvolle Ankündigung abzeichnet. Immer wieder spielen die Kinder Szenen aus «Titanic» nach. Zwischen Kindheit und Jetztzeit, Spiel und Realität, Nähe und Abwesenheit zeichnet das Stück das Bild eines von Unsicherheit geprägten Aufwachsens. Der eigenen Fantasie und der ständigen Suche nach Halt ausgesetzt, berichten die drei von einer Kindheit, in der der Eisberg immer in unmittelbarer Nähe scheint und in der das Erzählen selbst zum vielleicht letzten rettenden Anker wird.

Raus auf die grosse Bühne

Eine Besonderheit der beiden von Wyss gewonnenen Theaterpreise ist es, dass sie neben Ruhm, Ehre, Aufmerksamkeit und Preisgeld auch die Garantie einer Uraufführung beinhalten – im Falle des Retzhofer Dramapreises sogar am Olymp des deutschsprachigen Theaters, dem Wiener Burgtheater. Das ist wahrlich die effektivste Dramaförderung, die man sich vorstellen kann.

Was bedeutet der Jungautorin dieser grosse und frühe Erfolg? Wyss strahlt: «Dass das Stück nun tatsächlich aufgeführt wird, gibt mir sehr viel Antrieb. Dass Schauspielerinnen und Schauspieler meine Texte auswendig lernen, dass sie von realen Körpern gesprochen und gespielt werden, finde ich noch immer unfassbar aufregend und weiss ich sehr zu schätzen. Da ich selber in Wien wohne, ist es natürlich besonders toll, dass mein Stück in dieser Stadt zu sehen sein wird.»

Darüber hinaus: Der Retzhofer Dramapreis war einer der ersten Preise, die die junge Studentin kennengelernt hat, als sie anfing, Theatertexte zu schreiben. Alle Autorinnen und Autoren, die ihn bisher erhalten haben, bewundere sie sehr. «Dass mein Name einmal Teil der Preisträgerinnen-Liste sein könnte, war für mich immer nahezu unvorstellbar. Ganz glauben kann ich es ehrlich gesagt immer noch nicht. Vielleicht bei der Premiere?»

Schreiben ist Schreiben ist nochmals Schreiben

Die Bescheidenheit des Jungtalents wirkt in keinem Moment aufgesetzt. So echt wie die Freude ist auch ihr selbstkritisches Staunen. Was aber ist es denn konkret, das die Fantasie der Sprachkünstlerin in Schwung bringt? Gibt es da Tricks, Training oder Techniken?

«Ich notiere immer und überall», erklärt die Baslerin. «Nach dem Duschen mit noch nassen Händen. Auf dem Fahrrad an der Ampel, kurz bevor sie wieder auf Grün schaltet. Manchmal entsteht aus einer solchen Notiz ein Fragment. Und aus einem Fragment vielleicht ein weiteres.» Wenn sie das Gefühl habe, dass etwas Grösseres daraus werden könnte, versuche sie sich an einer groben Struktur. «Ich überarbeite sehr genau und sehr viel. Ich schreibe und streiche. Streiche und schreibe. Schreibe und streiche und schreibe und …» Das Schreiben hat, wenn man der Jungautorin so zuhört, etwas fröhlich Fiebriges, etwas existenziell Notwendiges. Ihr sei es sehr wichtig, dass der Rhythmus stimme, dass die Wiederholungen gezielt gesetzt seien, dass Sprache und Form in einem für sie stimmigen Spannungsverhältnis stehen. «Was erzählt sich inhaltlich über die Form – und anders herum?»

Und wenn sie mal nicht gerade in einer intensiven Schreibphase steckt? «Dann lese ich sehr viel. Mittlerweile schreibe ich in Bücher rein, streiche an, mache Randbemerkungen. Früher waren mir meine Bücher immer heilig, ich habe kein einziges Eselsohr reingemacht und reingeschrieben schon gar nicht.» Jetzt seien andere Texte und Bücher für sie auch Teil der eigenen Schreibarbeit. «Ich schreibe nie allein», betont sie, «ich sehe mein eigenes Schreiben – anders, als der männlich geprägte Genie-Gedanke es proklamiert – immer im Kontext anderer Texte und eigener Körperlichkeit.» Sie sammle Zitate in einem Dokument, eine Art eigenes Archiv sozusagen. «Oft habe ich das Gefühl, dass es nicht reicht, wenn ich Sätze lese, die ich toll finde. Ich würde sie mir am liebsten einverleiben, sie aufessen, irgendwo ganz tief in mir vergraben. Der Text, der sich mir einschreibt, ich, die in die Texte anderer mit reinschreibe.»

Kanon und Gegenkanon

Generell spiele der Begriff des Archivs eine wichtige Rolle für ihr Schreiben. «Wenn ich zurückdenke an meine Schulzeit, ist das, was ich an Literatur kennengelernt habe und was zum sogenannten Kanon gezählt wird, sehr weiss und männlich geprägt.» Sie verweist auf das Projekt eines Autors, der dazu aufrief, alle Bücher im Regal umzudrehen, die von weissen Männern geschrieben wurden. «Die meisten Regale würden, denke ich, wortwörtlich sehr weiss aussehen. Sowohl mein Bücherregal als auch meine Sammlung an Texten und Sätzen sind der Versuch eines Gegenkanons. Deshalb ist es mir auch so wichtig, auf alle anderen künstlerischen Arbeiten in meinen eigenen Texten hinzuweisen: jede Fussnote als ein Verweis auf dieses Archiv, jede Fussnote als Teil eines Gegenarchivs.»

Die literarischen Texte von Leonie Lorena Wyss, die man bisher lesen konnte, zeichnen sich aus durch eine – um es leicht paradox auszudrücken – spielerische Dringlichkeit. Es geht stets um menschlich zentrale Beziehungen, um Existenzielles, Erschütterndes. Aber gleichzeitig immer auch um Humor und Leichtigkeit. «Humor hilft mir dabei, Dinge zugänglicher, vielleicht überhaupt erst ertragbar zu machen.» Dabei seien für sie popkulturelle Referenzen sehr wichtig. So entstehen etwa Bezüge zum explizit weiblichen Kosmos der österreichischen Malerin Xenia Hausner, zu Popsongs von Gwen Stefani bis Eros Ramazzotti – oder zu filmischen, poetischen und theoretischen Referenzen.

Der Stoff, aus dem die Träume sind

Wie aber findet die Autorin ihre eigenen, so dringlichen Stoffe? Fliegen sie ihr von aussen zu? Oder schlummern sie schon länger in ihrem Innern? «Oft habe ich das Gefühl, dass mein Schreiben mehr weiss als ich. Dass ich mich schreibend an Themen herantaste, die mich irgendwo schon länger beschäftigen.» Oft gehe sie von einer Beobachtung aus. Von einem Bild oder einer Geschichte, die sie nicht mehr loslasse.

Kürzlich habe sie beispielsweise von der Pandabärin Meng Meng erfahren, die in ihrem Gehege des Berliner Zoos nur noch rückwärts lief. «Das Video von ihr, das ich gesehen habe, hat mich dazu inspiriert, einen Text zu schreiben, ihr Rückwärtsgehen als Akt der Verweigerung aufzugreifen und die absurd vermenschlichenden, misogynen Reaktionen darauf spielerisch zu verarbeiten.» Letztlich ist daraus eine Rede entstanden, die als Teil der Anthologie «Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen» im Fischer-Verlag erschienen ist.

Das Schwierigste im Schreibakt

Womit hat Wyss bisher am meisten gerungen in ihrer Schreibarbeit? Wo und wann kommt sie an Grenzen? Sie seufzt: «Sobald ich an den Punkt komme, an dem ich zu viel über die Form nachdenke, an dem ich die Form vom Text abstrahiere und den Text nur noch als Konstrukt sehe, weiss ich, dass da etwas nicht passt. Dass es zu konstruiert ist.» Schreiben sei ein ständiges Freilegen neuer Schichten, ein Graben nach dem, was sie sagen wolle. «Verzweifeln. Ausprobieren. Wieder neu anfangen.»

Und sie stellt klar: «Schreiben ist Fleissarbeit. Und bedarf Durchhaltevermögen. Immer und immer wieder daran glauben, dass der Text eine Berechtigung hat, dass die Geschichte, dass die Sprache trägt – das ist es, was mir am schwersten fällt.» Um dann doch wieder zu betonen: «Schreiben macht unfassbar viel Spass!» Sie habe aber das Gefühl – und das gehöre auch zu diesem männlich geprägten Geniekult, meint sie mit kritischem Blick – , dass das Schreiben oft romantisiert werde als etwas, das aus reiner Inspiration heraus oder unter Einfluss von Alkohol nachts bei Kerzenschein fast manisch geschehe. «Es gibt sicher Momente, in denen ich nicht mehr aufhören kann zu schreiben, in denen ich spüre, wie es in den Fingern kribbelt, wie ich mich unbedingt gleich hinsetzen muss. Das sind aber eher Ausnahmen. Meist fühlt es sich nach tatsächlicher Arbeit an.»

Aus welchen Quellen schöpft die Autorin sonst noch für ihr Schreiben? Tanz und Performance seien für sie sehr wichtige Inspirationen, sagt sie, nicht zuletzt, weil sie selber tanze, seit sie sieben Jahre alt ist. «Tanzen und Schreiben gehen für mich Hand in Hand – ich mache eine Bewegung und denke dabei an Geschriebenes, ich schreibe und folge dabei einer bestimmten Bewegung.» Kürzlich erst habe sie ein Essay geschrieben, in dem sie versucht habe, Tanz, Queerness und Schlaflosigkeit zusammenzubringen. Rocío Molinas Arbeiten hätten sie sehr inspiriert: «Sie ist zudem die einzige lesbische Flamencotänzerin, die ich kenne.»

Kollektives Schreiben: Wie geht das denn?

Und dann erzählt sie begeistert von etwas, das man sich gar nicht so recht vorstellen kann: vom literarischen Schreiben im Kollektiv. Am Anfang stehe immer eine grosse Themensammlung. Textauszüge, Zitate, Artikel und erste eigene Fragmente würden zu einem Dokument zusammengefügt. Man suche gemeinsam nach einer ersten Dramaturgie. «Häufig stellen wir uns eigene kleine Schreibaufgaben, fangen mit einem Teil an und geben ihn dann an eine andere Person weiter, schneiden auseinander und setzen neu zusammen. So lange, bis man am Ende einen Satz liest und gar nicht mehr weiss: War das mal meiner oder vielleicht doch von einer andern? Das ist eigentlich immer der schönste Moment, finde ich.»

«Ich liebe es, Fan zu sein von anderen Texten», schwärmt Leonie Lorena Wyss. «Ich denke, es ist eine Illusion, dass Dinge immer nur aus einem selbst heraus entstehen.» Deshalb sei für sie die Arbeit in Kollektiven sehr inspirierend: gemeinsam zu schreiben, also auch Strukturen zu schaffen in einem von Wettbewerb und Konkurrenz geprägten Betrieb. «In einem solchen Kollektiv über Berlin, Wien und Basel hinweg informieren wir uns gegenseitig über Ausschreibungen und Veranstaltungen, treffen uns regelmässig und sprechen darüber, wie wir uns als FLINTA* – Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nonbinäre, Trans- und Agender-Personen – im Literaturbetrieb positionieren, was wir ändern können.» Diese Form von Rückhalt und Bestärkung sei für sie in einer noch immer sehr männlichen, in neoliberale Strukturen eingebetteten Szene extrem wichtig.

Der Urgrund

Was aber ist es letztlich, das Leonie Lorena Wyss zum Schreiben drängt? Sie denkt länger nach. «Ich glaube fest daran, dass es wichtig ist, welche Geschichten und Bilder wir sehen welche Blaupausen, welche Vorbilder, Modelle und Schablonen es gibt, die sich unter den Alltag legen und in unsere Körper einschreiben. Mich interessiert das Spiel mit Mehrdeutigkeiten, die Bildhaftigkeit von Sprache. Ambiguität zu erforschen, ist für mich nicht zuletzt eine queere und anti-populistische Praxis.»

Anfänglich habe sie der an sich selbst gerichtete Anspruch, mit dem literarischen Text etwas bewirken zu wollen, auch blockiert. «Mit der Zeit habe ich gelernt, dem Schreiben nicht alles zumuten zu wollen. Ich habe für mich verstanden, dass das Schreiben einerseits natürlich eine unfassbar wichtige politische oder gesellschaftsrelevante Ebene hat und gleichzeitig nicht alles abdecken muss.» Deshalb sei ihre Arbeit im politischen Bildungskontext ein wichtiger Teil ihrer Tätigkeit, der ihr helfe, dem Schreiben nicht zu viel aufzuladen. «Denn sobald ich zu viel aussagen will, geht etwas Wichtiges für mich verloren, verfängt sich der Text in Floskeln oder Sätzen, die mehr nach Autorin als nach Figur klingen.»

Ein ganz wichtiger Ort für ihren bisherigen Weg sei sicher das Institut für Sprachkunst an der Universität Wien. «Die Feedbackkultur, die ich hier erlebe, ist extrem wertschätzend und zugleich hochpräzis. Ein Ort von echter Kollegialität und Kollektivität. Kurz, ein grosses Glück.» Man darf gespannt sein, was von dieser quirlig ernsthaft verspielten jungen Autorin als Nächstes kommen wird.

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