Kolumne

Die Briefmarken meines Grossvaters

Peter Stamm (59) wurde 2018 für «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (2018) mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. «Das Archiv der Gefühle» (2021) ist sein jüngster Roman. In der Kolumne teilt der Schriftsteller seine Gedanken.

Peter Stamm

Ich habe nur undeutliche Erinnerungen an meinen Grossvater, den Vater meines Vaters, ich muss sechs oder sieben gewesen sein, als er starb, und das Bild, das ich von ihm habe, könnte ebenso gut aus der Wirklichkeit wie von den Fotografien stammen, die ich später von ihm sah. Was ich aber vor allem mit ihm verbinde, ist eine Briefmarkensammlung, die nach seinem Tod in unseren Besitz überging und die sich langsam auflöste, bis nichts mehr von ihr übrig war. In meiner Erinnerung bestand sie aus Dutzenden von Alben, in denen, dicht übereinander gefächelt, die Briefmarken steckten, Hunderte, vielleicht Tausende von Exemplaren derselben Marken, die mein Grossvater wohl kiloweise gekauft und eingeordnet hatte. Viele stammten aus Deutschland, aus der Zeit der Hyperinflation der Zwanzigerjahre, mit aufgedruckten Millionen- und Milliardenwerten. Als Kinder waren wir fasziniert von diesen irren Beträgen und von der Akribie, mit der die Marken eingeordnet waren. Auch wenn sie kaum einen Wert hatten, für unseren Grossvater schienen sie eine Bedeutung gehabt zu haben, die vermutlich nur echte Sammler nachvollziehen können.

Meine eigene Sammeltätigkeit beschränkte sich in meiner Kindheit auf eine Schachtel voller Abziehbilder, die immer noch irgendwo stecken muss. Als ich erwachsen wurde, wurde ich zum Gegenteil eines Sammlers und empfand Besitz als Ballast, wohnte in einer möblierten Mansarde, um keine Möbel anschaffen zu müssen, die mich beschweren würden. Nur Bücher habe ich seltsamerweise nie als Ballast empfunden, als könnten sie für sich selbst sorgen, wenn ich mich einmal nicht mehr um sie kümmern könnte.

Das war die Zeit, in der die halbe Schweiz Kaffeerahmdeckel sammelte und die andere Hälfte sich darüber mokierte, noch wertlosere Objekte als die Briefmarken meines Grossvaters. Inzwischen erben wohl viele Menschen in meinem Alter solche Sammlungen, die sie, ohne lange nachzudenken, in den Abfall oder ins Recycling werfen, etwas erstaunt oder belustigt über die sinnlose Mühe und Arbeit, mit der ihre Mütter oder Onkel oder Grosseltern ihre Schätze angehäuft hatten.

Es gibt viele psychologische Erklärungen für das Sammeln, die meisten sind nicht sehr freundlich, immer geht es um Kompensation: Wer sammelt, dem fehlen soziale Kontakte, der kompensiert sexuelle Wünsche, bekämpft unbewusste Ängste, zeigt ein Dominanz- oder Ausweichverhalten. Aber je älter ich werde, desto mehr missfallen mir solche Zuschreibungen. Manchmal überlege ich mir, wie die Welt aussehen würde, wenn alle Menschen so denken und handeln würden wie ich. Und dann bin ich jedes Mal sehr froh, dass dies nicht so ist, dass es ganz unterschiedliche Menschen gibt mit ganz unterschiedlichen Interessen und Leidenschaften. Einige mögen mir wie die Sammler eigenartig erscheinen, aber vermutlich wirke auch ich auf gewisse Menschen etwas seltsam.

Die Briefmarkensammlung muss meinem Grossvater irgendetwas gegeben haben, was nichts mit dem Wert der Marken zu tun hatte, vielleicht haben sie ihn beruhigt oder getröstet. Mag sein, dass ihm soziale Kontakte fehlten, dass er unbewusste Ängste oder unerfüllte sexuelle Wünsche hatte, was geht es mich an? Wenn ihm das Sammeln, das Sortieren, das Einordnen seiner Marken das Leben etwas leichter gemacht hat, dann sei es ihm ebenso gegönnt wie anderen ihre Marotten.

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