MEDIZIN FÜR ALLE

Mann als Standard, Frau als Beigemüse: Die Gendermedizin–Forschung soll Gleichheit schaffen. Dank Wissenschaftlerinnen wie Dr. Antonella Santuccione Chadha.

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Übelkeit, kalter Schweiss, Schmerzen im Oberbauch. Hätten Sie an einen Herzinfarkt gedacht? Auch ohne stechende Schmerzen im Brustbereich? Erstere sind typische Symptome bei Frauen, zweitere bei Männern. Das Problem: Diese Unterschiede sind oft zu wenig erforscht und deshalb zu wenig bekannt – auch unter Ärztinnen und Ärzten. Das Resultat sind Fehldiagnosen und eine zu späte Erkennung von Gefahren. Der Fachbereich der Gendermedizin nimmt sich solchen geschlechterspezifischen Unterschieden an. Das Thema ist hochaktuell: In der Herbstsession hat der Nationalrat eine Motion angenommen, die den Bundesrat auffordert, die Forschung in diesem Bereich zu fördern. Das Thema geht nun an den Ständerat.

Die 48-jährige Ärztin und Veuve-Clicquot-Bold-Women-Award-Gewinnerin 2022 ist spezialisiert auf Neurowissenschaft, klinische Pathologie und psychiatrische Störungen und hat 2016 die Nonprofitorganisation Women’s Brain Project mitbegründet: Sie fördert die Forschung zum Einfluss von Geschlecht und Gender auf psychische und neurologische Erkrankungen.

Wir treffen die Wissenschaftlerin ein paar Tage vor dem Fototermin in einem schnörkellosen Café in Zürich, auf ihren Wunsch hin zwei Fussminuten entfernt vom Ort ihres nächsten Termins. Die schlichte Einrichtung kontrastiert Santuccione Chadhas sprudelnde Persönlichkeit – und widerspiegelt die pragmatisch straffe Organisation ihres Alltags: Unser Termin ist einer von vieren an diesem Nachmittag. «Ich habe mittlerweile rund fünf Jobs», meint sie lachend. Der erstgenannte: Mutter. Die sieben Fehlgeburten und Abtreibungen, die sie durchstehen musste, spricht sie von sich aus an. Ihren Erstgeborenen hat sie zwischen Mäusen im Labor gestillt, eine Babysitterin habe ihr das Kind jeweils vorbeigebracht. «Manchmal schaue ich zurück und frage mich: How?» Die Italienerin, zu Hause in Thalwil, wechselt in unserem Gespräch oft zwischen Deutsch und Englisch. Und zählt ihre vier weiteren Jobs auf, die meisten davon tätigt sie ehrenamtlich: CEO von Women’s Brain Project,

Vizepräsidentin des Vereins Euresearch, Chief Medical Officer der US-Firma Altoida und Beraterin verschiedener Start-ups und Forschungsinstitute.

Bald will sie in Zusammenarbeit mit der Universität Basel das weltweit erste Institut für «Sex and Gender Medicine» im Bereich Neurologie und psychische Gesundheit eröffnen. Dann hat Santuccione Chadha sechs Jobs. Sie wird auch das hinkriegen.

Frau Santuccione Chadha, starten wir mit Ihrem Fachgebiet, der Neurowissenschaft. Was sind die grössten Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Gehirnen?

Es gibt mehrere feine anatomische Unterschiede, die auf die Einflüsse von Hormonen auf unser Gehirn zurückzuführen sind, egal ob es sich dabei um weibliche oder männliche handelt. Diese Unterschiede zeigen sich in der exekutiven, kognitiven und motorischen Funktion. Für uns ist nicht interessant, wo diese Unterschiede im Alltag eine Rolle spielen. Wir interessieren uns für ihre Auswirkung auf Erkrankungen. Woran weibliche und männliche Gehirne erkranken, unterscheidet sich enorm.

Können Sie uns dafür ein Beispiel nennen?

Frauen haben grundsätzlich mehr Hirnerkrankungen und leiden eher an psychischen Krankheiten. Bei Alzheimer zeigen die Zahlen, dass rund siebzig Prozent der Betroffenen Frauen sind, bei Depressionen, Multipler Sklerose und Migräne sind es sogar rund achtzig Prozent. Auch die Gehirnerkrankung Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis tritt gehäuft bei Frauen auf: Dabei werden von einem nicht bösartigen Tumor, oft in den Eierstöcken, Antikörper gegen Rezeptoren zur Signalübertragung im Gehirn produziert. Die Krankheit wurde erst spät offiziell anerkannt. Wohl, weil sich darin ein alter Irrglaube wider­gespiegelt hat: Die Frau ist vom Teufel besessen und verrückt. Bei Autopsien hat man nämlich einen Tumor mit Augen, Haaren und Zähnen gefunden und gedacht, das sei das Teufelskind. Dabei ist das nicht unüblich, es handelt sich hier um einen Tumor aus Embryonalgewebe.

Studien zeigen, dass Frauen bei medizinischen Behandlungen weniger ernst genommen werden als

Männer. Lässt sich auch das mit historischen Gründen wie diesem Irrglauben erklären?

Ja, das ist ein Aspekt. Frauen werden auch heute noch als dramatischer wahrgenommen als Männer. Unter anderem aufgrund dieses Vorurteils werden Krankheiten bei weiblichen Personen oft später diagnostiziert. Ich erzähle Ihnen eine persönliche Geschichte, die gerade passiert ist: Eine Freundin von mir, ebenfalls Ärztin, ging zu ihrem Frauenarzt, weil sie spürte, dass sich eine Blasenentzündung ankündigte. Die Praxis hat einen Urintest gemacht, allerdings nicht am frühen Morgen, weshalb das Resultat unauffällig blieb. Wissen Sie, was der Arzt gesagt hat? Es habe sich wohl eine direkte Verbindung zwischen ihrem Hirn und der Blase aufgebaut, und jetzt denke sie immerzu daran. Meine Freundin ging beschämt nach Hause. Am nächsten Tag hatte sie achtunddreissig Grad Fieber und eine starke Infektion – und holte dann beim Hausarzt Antibiotika. Sie sehen: Meine Freundin ist Ärztin, und sogar da besteht der Verdacht, dass sich Frauen etwas einbilden.

Wie können wir solche Ungleichheiten und Vorurteile überwinden?

Wir brauchen mehr Frauen und allgemein mehr Diversität in der medizinischen Forschung. Nur so werden wir den intrinsischen Bias reduzieren und die Behandlung von allen verbessern. Es gibt mehrere Studien, die zeigen, dass man sich am besten um diejenige Person kümmert, die einem am ähnlichsten ist. Ich als weisse Person kümmere mich besser um eine andere weisse Person. Ein Mann kümmert sich besser um einen anderen Mann, eine Frau besser um eine andere Frau. Das heisst, wir brauchen mehr Personen aus unterrepräsentierten und unterversorgten Gruppen. Auch, weil bisher vieles auf den männlichen Körper zugeschnitten wurde. Nehmen wir als Beispiel eine EKG-Maschine: Ich habe vor drei Jahren an einer Konferenz gelernt, dass sie Herzinfarkte bei Frauen schlechter erkennt, weil unsere Arterien kleiner sind. Die Maschinen sind auf die grösseren Arterien von Männern eingestellt.

Sie sprechen Ihr Forschungsgebiet, die Gendermedizin, an. Wo stehen wir da heute in der Schweiz?

Mittlerweile an einem guten Punkt. Im Juni haben wir mit Women’s Brain Project eine Studie publiziert, die zeigt, dass die wissenschaftlichen Artikel zu Geschlechts- und Genderunterschieden im Bereich Kardio- und Neuromedizin explodiert sind. Das Gleiche gilt für die Finanzierung von Gendermedizin-Forschungsprojekten, beispielsweise durch den Schweizer Nationalfonds oder das EU-Förderprogramm für Forschung und Innovation Horizon 2020. Und aktuell ist eine Motion zu Gendermedizin im nationalen Parlament. Als wir 2015 mit Women’s Brain Project gestartet sind, wurden wir noch gefragt: «Ach, brauchen wir das wirklich? Gibt es nicht genug von diesen Frauenbewegungen?»

Erachten Sie Gendermedizin als feministisch?

Nein. Gendermedizin ist schlicht und einfach die Art von Medizin, die schon immer hätte umgesetzt werden sollen. Es ist eine grossartige Möglichkeit, die Behandlung aller zu verbessern. Der Ansatz hat auch positive Auswirkungen auf die Gesundheitskosten.

Inwiefern?

Erstens: Wenn Sie ein Medikament entwickeln, das möglichst spezifisch auf die Bedürfnisse von Patientinnen oder Patienten abgestimmt ist, werden diese es besser nutzen und dadurch schneller gesund. Zweitens: Ist das Medikament mit einer guten Geschlechteranalyse getestet worden, gibt es weniger Nebenwirkungen. Das bedeutet weniger Behandlungen und weniger Kosten für das Gesundheitssystem. Nehmen wir die Covidimpfung als Beispiel: Die Mehrheit der Nebenwirkungen trat bei Frauen auf. Weibliche Personen waren zwar Teil der Studie, aber die Geschlechteranalyse wurde nicht sorgfältig genug durchgeführt. Vielleicht hätten Frauen zum Beispiel eine niedrigere Dosierung gebraucht.

Auch impfbedingte Zyklusveränderungen sind ein Thema. Wird der Menstruationszyklus bei Studien thematisiert?

Nein, überhaupt nicht, nobody cares! Gestern habe ich mit einer Ärztin gesprochen, einer phänomenalen Onkologin aus Neuseeland. Sie ist zuständig für die Genehmigung von Finanzierungen für Onkologie-Forschungsprojekte. Jemand wollte den Effekt von Östrogen auf Fruchtbarkeit erforschen. Jetzt raten Sie mal, wer als Probanden vorgeschlagen wurde: kastrierte Hengste (lacht)! Das ist doch verrückt! Aber so läuft es.

Bleiben wir bei den medizinischen Studien. Frauen sind dort häufig unterrepräsentiert. Was sind die Gründe?

Das lässt sich zum Teil wieder historisch erklären. Es gab eine Episode in der Geschichte, in der schwangere Frauen für Studien rekrutiert wurden. Doch dann traten Fehlbildungen bei Neugeborenen auf, und die Teilnahme der Schwangeren wurde zu Recht gestoppt. Die Angst vor solchen Auswirkungen ist geblieben, ist aber deutlich geringer. Und dennoch: Die Teilnehmenden der Phase eins und zwei zu Beginn von Studien sind meist Männer. Frauen haben oft ganz einfach anderes zu tun. Sie kümmern sich beispielsweise häufiger um die Kinderbetreuung. Es fehlt oft auch der Anreiz, an einer klinischen Studie teilzunehmen. Meistens gibt es keine finanzielle Entschädigung, man muss für die Anreise zahlen, vielleicht noch für die Kinderbetreuung. Das addiert sich, und Frauen entscheiden sich gegen die Teilnahme.

Wie fliessen soziokulturelle Faktoren wie Care-Arbeit in die Gendermedizin-Forschung ein?

Wir sammeln dazu so viele Daten wie möglich. Unbezahlte Care-Arbeit wird überwiegend von Frauen übernommen, und als Hauptbetreuungsperson hat man ein erhöhtes Risiko, unter gewissen Krankheiten zu leiden – etwa unter Demenz oder einer Depression. Es gibt hier in der Forschung aber noch eine weitere grosse Herausforderung: Momentan sammelt man fast nur Daten zum sogenannten «sex», also zum bei der Geburt zugewiesenen anatomischen Geschlecht. Genderdaten werden im Gesundheitssystem aktuell noch kaum erfasst. Der Ausdruck Gendermedizin ist also eigentlich unpräzise. Was wir heute betreiben, ist «sex medicine», Geschlechtsmedizin, basierend auf der DNA der Patientinnen und Patienten.

Das Wort Gender provoziert, der weibliche Körper wird durch die Abtreibungsdebatte politisiert. Wie politisch darf Medizin sein? Wie politisch muss sie sein?

Die Gesundheit der Bevölkerung sollte die Priorität jeder Regierung sein. Das gilt für die physische Gesundheit wie auch für die wirtschaftliche, diese Dinge sind eng verbunden. Armut macht Menschen krank. Geht es um das Thema Frauenkörper, habe ich eine etwas provokative Vision: Ich glaube, erst wenn starre Geschlechterkategorien wegfallen, werden wir aufhören, Frauen- und Männerkörper unterschiedlich zu behandeln und darauf gestützt Gesetze zu erlassen. Heute trennen wir die Gesellschaft basierend auf ihren Genitalien und ihrer sexuellen Orientierung. Das ist doch beinahe pseudopornografisch. Es ist mir egal, ob jemand Brüste oder einen Penis hat oder ob diese Person Männer oder Frauen liebt – solange sie Mitmenschen respektiert. Ich glaube, unser Geschlecht wird einmal so etwas sein wie der BMI oder der Blutdruck: ein Faktor wie viele andere.

Das Thema Gendermedizin ist im Aufwind. Wieso gerade jetzt?

Weil wir während Jahren viel Lärm gemacht haben auf der ganzen Welt. Das bewirkt etwas, die Menschen denken nach. Mit Lukas Engelberger, Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz, haben wir schon vor drei Jahren Gespräche geführt, ebenso mit Schweizer Universitäten. Nun wollen wir gemeinsam mit der Universität Basel das weltweit erste Institut für «Sex and Gender Medicine» im Bereich Neurologie und psychische Gesundheit gründen. Meine Überzeugung ist: Die Zukunft wird durch die Menschen gestaltet, die ein Bild der Zukunft zeichnen können. Wir haben diese Zukunft vor fünf, sechs Jahren aufgezeigt. Und nun nimmt sie Form an.

«Woran weibliche und männliche Gehirne erkranken, unterscheidet sich enorm.»

Dr. Antonella Santuccione Chadha, Expertin für Gendermedizin

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