Über die Magie des Abtauchens

Wie kaum ein anderer versteht es der Genfer Autor, seine Leser bis zum letzten Moment in Atem zu halten. Jetzt ist sein neues Buch auf Deutsch erschienen. Wir durften einen Blick in die Werkstatt und das Herz von Joël Dicker werfen.

Sorglos Um effizient schreiben zu können, muss in Joël Dickers Kopf Ruhe herrschen.

Das Interview wird per Zoom geführt, die Zeit beträgt eine Stunde. Joël Dicker ist ein guter Verwalter seiner Zeit. Ein Glück für ihn. Der 37-jährige Romand, erfolgreichster lebender Autor der Schweiz, lässt den Gast sechs Minuten später als vereinbart eintreten. Er entschuldigt sich für die Verspätung. Joël Dicker ist präsent, auch wenn hinter ihm zwei Personen Gegenstände durch die Gegend tragen. Bei der einen könnte es sich angesichts der langen, dunklen Haare um seine Frau Constance handeln, eine kanadische Psychologin. Er ist von höflicher Freundlichkeit mit einem Schuss Distanz. Eine angenehme Mischung, wie gemacht, um die Stösse des Lebens zu mildern, wie Arthur Schopenhauer sagt. Als der Gast in der Halbzeit ankündigt, die Fragen aus Zeitgründen reduzieren zu wollen, stellt Dicker eine sechsminütige Verlängerung in Aussicht. Das beruhigt den Gast dergestalt, dass das Gespräch nach 59 Minuten endet.

Sie kommen frisch aus den Ferien. Wie haben Sie sie verbracht?

Ich habe gelesen, Sport gemacht und geschrieben. Das Beste an Ferien ist, dass ich Zeit zum Schreiben habe. Ich kann dann wirklich in meiner Blase sein.

Ziehen Sie sich immer dorthin zurück, bevor ein neues Buch von Ihnen erscheint? Damit Sie den Reaktionen möglichst entspannt begegnen können?

Ja. Aber diesmal bin ich ein bisschen ruhiger, weil das Buch in Frankreich schon seit einem Jahr auf dem Markt ist. Natürlich hoffe ich, dass die deutschsprachigen Leser es auch mögen werden!

Lassen Sie uns über Ihren kreativen Prozess sprechen. Sie arbeiten ja, ohne sich vorher einen Plan zurechtzulegen. Wie kommt eine Geschichte zu Ihnen? Ihr Protagonist, der Schriftsteller Marcus Goldman, vergleicht den Moment mit einem Haufen Leute, die ohne Vorwarnung hereinschneien und sein stilles Dasein auf den Kopf stellen.

So ungefähr ist das bei mir auch. Eine Geschichte zu schreiben, ist für mich keine Konzeptarbeit, sondern eine Lebenserfahrung. Ich falle sozusagen in eine andere Welt hinein. Das ist sehr aufregend.

Sie sitzen also am Schreibtisch, und plötzlich taucht aus dem Nichts eine Idee auf?

Bevor eine Idee auftauchen kann, muss die Lust da sein. Ich werde oft gefragt, wie man es anstellt, eine Idee zu finden und daraus ein Buch zu machen. Verspüren Sie denn wirklich unbändige Lust, frage ich jeweils zurück. Denn es ist mit viel Arbeit und mit vielen Opfern verbunden. Ich vergleiche es oft mit Hunger. Um ein Buch zu schreiben, braucht man einen enormen Hunger und nicht ein bisschen Appetit.

Sie verspüren also unbändige Lust auf eine Geschichte — was passiert dann?

Dann tröpfeln Personen ein. Die eine Person habe ich vielleicht schon länger im Kopf. Der anderen bin ich vielleicht am Morgen zufällig begegnet, und die Begegnung hat mich berührt. Diese Figuren beginne ich dann aufzustellen.

Welche innere Instanz hat bei diesem Prozess das Sagen?

Mein Instinkt. Stellen Sie sich vor, Sie laden Gäste ein, die sich untereinander nicht kennen. Aber Sie haben ein Gefühl dafür, wer zu wem passen könnte, und sind freudig gespannt, ob Sie richtig liegen. So geht es mir beim Schreiben. Ich lasse Personen auftreten und finde heraus, ob sie miteinander harmonieren. Wenn nicht, versuche ich es von Neuem.

Leben Sie mit Ihren Figuren?

Ja, und sie verlassen mich nur zögerlich, wenn ein Roman beendet ist. Ich fühle mich dann einen Moment lang verwaist und traurig. So, als hätte ich mich von guten Ferienfreunden verabschiedet.

Hat Alaska Sie schon verlassen?

Alaska ja. Marcus hingegen nicht. Er hat mich ja viele Jahre begleitet.

Leiden Sie wie er unter Schreibstau?

Nein. Aber ich kenne andere Ängste, die mich sehr blockieren können. Es sind mitunter grosse Zweifel, ob meine Ideen auch tatsächlich funktionieren. Aber ich lerne immer besser, mit ihnen umzugehen. So wird mir jedes Mal, wenn ich einem solchen Zweifel auf den Grund gehe, klarer, dass ich an einer bestimmten Stelle vom Weg abgekommen bin. Wenn ich heute Passagen lösche, bedeutet das für mich einen Fortschritt. Denn ich bin um eine Erkenntnis reicher geworden.

Der Zweifel ist also Ihr Instinkt, der Ihnen ein Zeichen gibt

Exakt. Und je länger ich schreibe, desto besser verstehe ich diese Zeichen. Ich erlange ein immer tieferes Verständnis des Prozesses, der sich am Entfalten ist. Das ist erfüllend.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie nicht vom Fleck kommen?

Ich gerate nicht mehr in Aufruhr. Manchmal muss man eben auf andere Gedanken kommen. Ich gönne mir vielleicht ein paar freie Tage oder mache Sport.

Tagein, tagaus zu schreiben, ist ein Knochenjob. Es braucht dafür einen starken Körper.

Wie recht Sie haben. Schreiben verlangt die Kondition und die Disziplin eines Sportlers.

Wie sieht Ihr Fitnesstraining aus?

Ich laufe, gehe drei- bis viermal die Woche ins Fitnessstudio, achte auf meinen Schlaf und meine Ernährung.

Kochen Sie für sich?

Nein, ich bin kein guter Koch.

«Schreiben ermöglicht mir, mehrere Leben gleichzeitig zu leben. Wenn ich schreibe, trete ich aus meiner Realität und Zeit heraus.»

– Joël Dicker, Autor

So wie Ihr Protagonist, der in Ihrem neuen Buch gerade mal einen mittelmässigen Bananenkuchen zustande bringt.

Wie viele Menschen, würde ich sagen!

Welche «einfachen Lebensmittel, die lange halten» befinden sich immer in Ihrem Kühlschrank? Diese simple, klare Beschreibung aus «Die Geschichte der Baltimores» ist mir im Gedächtnis geblieben.

Eier! Ich esse viele Eier. Sie sind für mich unverzichtbar.

Marcus Goldmans Lieblingsrestaurant in Mailand ist das «Salumaio di Montenapoleone». Auf der Website steht das berühmte Zitat von Jean Anthelme Brillat-Savarin: «Sag mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist.» Sagen Sie mir, was Sie essen, abgesehen von Eiern?

Pasta. Caccio e Pepe.

So simpel wie klar. Wenn Sie wünschen könnten: Wie soll ein Freund Sie einem Unbekannten beschreiben?

Vielleicht als jemand, der anderen Menschen zugewandt ist. Doch, das gefiele mir. Aber wer weiss, vielleicht denkt der Freund ja insgeheim, dass ich unmöglich bin!

Seine Freunde muss man sich gut aussuchen … Ihre Zugewandtheit zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Ihnen der Austausch mit Ihren Lesern offensichtlich Spass macht.

Da haben Sie recht. Ich suche das Gespräch mit ihnen. Ich reise in die Länder, in denen meine Romane erscheinen, und bin dort in den Buchgeschäften anzutreffen. Dass Menschen meine Geschichten lesen, berührt mich sehr. Es bringt mich mit meinem Ich vor fünfzehn Jahren in Kontakt, als ich Bücher schrieb, in die ich so viel Arbeit gesteckt hatte und die niemand interessierten. Jedes Mal, wenn heute ein Leser auf mich zukommt und mir sagt, er habe alle meine Bücher gelesen, kann ich mein Glück kaum fassen.

Die arbeitsreichen Tage sind geblieben. Sie gehören zu den Frühaufstehern.

Ja, wenn ich um vier Uhr morgens den Tag beginne, bin ich glücklich. Es ist eine Zeit der tiefen Ruhe und Konzentration.

Wie sieht bei Ihnen ein normaler Arbeitstag aus?

Die frühen Morgenstunden sind dem Schreiben gewidmet. Gegen sieben begebe ich mich in mein Verlagsbüro. Dort schreibe ich bis am Mittag weiter. Die Nachmittage gehören Leseranlässen und Interviews.

Sie sind ein Ausbund an Energie und Disziplin.

Beides ist unerlässlich, damit ich alles unter einen Hut bekomme. Ich gebe die französischen Bücher ja selbst heraus. Zum Glück habe ich ein wunderbares Team an meiner Seite. Ich muss also nicht nur zum Schreiben in Form sein, sondern auch für die Menschen um mich herum.

Haben Sie Ihren eigenen Verlag gegründet, damit Sie nicht so einen penetranten Verleger im Nacken haben wie Marcus in «Die Affäre Alaska Sanders»?

Nein. Mein alter Pariser Verleger Bernard de Fallois ist vor zwei Jahren gestorben. Ich habe ihn unglaublich geschätzt und wollte nach ihm keinen anderen mehr haben.

Bernard de Fallois hat Sie vor elf Jahren entdeckt und «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» herausgebracht. War er für Sie ein Mentor wie Harry für Marcus?

Nein. Er war eher eine überaus wichtige Figur in meiner verlegerischen Lehrzeit. Ein Lehrer, von dem ich viel gelernt habe. Unter einem Mentor verstehe ich jemanden, dem ich nacheifern will.

Die zentrale Frage, die sich Marcus laut Harry stellen sollte, war: «Fragen Sie sich, wieso Sie schreiben?» Haben Sie es für sich herausgefunden?

Schreiben ermöglicht mir, mehrere Leben gleichzeitig zu leben. Wenn ich schreibe, trete ich aus meiner Realität und Zeit heraus. Ich habe dann das Gefühl, dass das Leben unendlich grösser und alles möglich ist.

Erlauben Sie mir, dass ich ein letztes Mal mit Harry komme. Sein wichtigster Ratschlag an Marcus war: «Widmen Sie sich Ihrem eigenen Leben, und hören Sie auf, in dem von anderen herumzustochern.» Was löst er in Ihnen aus?

Dass ich ihn für mich integriert habe. Ich gehe meiner Umgebung nicht auf die Nerven, indem ich mich in ihre Angelegenheiten mische. Vor so Menschen habe ich ehrlich gesagt Horror. «Leben und leben lassen» lautet meine Devise.

Wer sind Sie, wenn Sie allein zu Hause sind?

Ein Träumer, der in sein Buch versunken ist. Wenn ich alleine bin und mein Geist ruhig ist, beginne ich, zu träumen, und erfinde andere Wirklichkeiten. Da ist eine Welt in mir, die ich gern betrete.

Was für ein Klima brauchen Sie, um schreiben zu können?

Ich muss ausgeglichen sein, sorglos. In meinem Kopf muss Ruhe herrschen. Dann spielt es keine Rolle, ob ich an einem lärmigen Ort bin. Wenn mich hingegen etwas belastet, kann ich selbst an einem ruhigen Ort nicht schreiben.

Was ist Ihr Rezept, um diese Ausgeglichenheit zu erlangen?

Mich nicht aufregen. Ich rege mich immer weniger auf.

Das ist auch eine Entscheidung.

Genau. Ob uns etwas nervt oder nicht, hängt von uns selbst ab.

Gibt es noch etwas, das einem guten Arbeitsklima zuträglich ist? Marcus hörte «Casta Diva» von Maria Callas ...

Musik ist tatsächlich eine wichtige Zutat. Sie ermöglicht mir, in meiner Welt zu bleiben, auch wenn um mich herum alles rotiert. Natürlich tragen auch meine Kopfhörer ihren Teil dazu bei.

Worauf fokussieren Sie beim Schreiben am meisten?

Auf Klarheit. Klarheit im Erzählfluss mit den vielen Nebensträngen und Figuren. Solange ich klar bin, geht alles auf. Ich habe keine Gedächtnisstütze neben mir liegen. Die hat der Leser ja auch nicht.

Ich denke gerade an die Bücher, die auf den ersten Seiten eine Personengalerie abgedruckt haben.

Für mich sind das immer Warntafeln. Sie signalisieren mir: Achtung, jetzt verstehst du gleich nichts mehr!

In welchem Stadium geniessen Sie das Schreiben am meisten?

Wenn ich in der Mitte der Geschichte bin. Wenn ich weiss, wohin ich mich bewege, und meine Personen zusammenhabe. Wenn es wie von selbst zu laufen scheint.

Ist Ihre Trilogie deshalb in Amerika angesiedelt, weil das der Sehnsuchtsort Ihrer Jugend ist?

Ja. Ich habe zwanzig Jahre lang meine Sommer dort verbracht. Aber der tiefer liegende Grund ist, dass ich es als junger, unerfahrener Schriftsteller schwer fand, am Ort, an dem ich lebe, fiktive Geschichten zu schreiben. Damals ging mir auf, dass sich Neuengland gut eignet, weil ich die Region kenne und trotzdem Distanz dazu habe. Mittlerweile weiss ich, wie Fiktion funktioniert. Mein vorletztes Buch, «Zimmer 622», spielt in meiner Heimatstadt Genf.

Wann wussten Sie, dass Sie Schriftsteller sein wollen?

Ich habe schon immer gern geschrieben, so wie ich schon immer gern gezeichnet und Musik gemacht habe. Nur hatte ich fürs Zeichnen nicht genug Talent, und beim Schlagzeugspielen war ich immer von einer Band abhängig. Mit Anfang zwanzig wurde mir endgültig klar, dass Schreiben meine Welt ist. Und ich habe mich ihr ganz verschrieben.

Ihre Mutter ist Bibliothekarin. Sie sind sicher mit unzähligen Büchern aufgewachsen. Welches Buch lieben Sie so sehr, dass Sie es immer wieder lesen?

«Die Schöne des Herrn» des Schweizer Schriftstellers Albert Cohen. Die Schönheit seiner Sprache ist unbeschreiblich. Nicht nur der Worte wegen. Es ist die darunterliegende Musik.

Ich komme noch einmal auf die Planlosigkeit zurück, die Ihr Schreiben prägt. Gestatten Sie sie sich auch sonst in Ihrem Leben?

Nein. Ich bin gern strukturiert, ein guter Schweizer. Ich will wissen, wos langgeht. Beim Schreiben ist Planlosigkeit der Schlüssel zu meiner künstlerischen Freiheit. Sie erlaubt mir, nach dem Lustprinzip neue Welten zu kreieren.

Doch der Haltung, sich planlos dem Lebensfluss zu übergeben, wohnt eine eigene Intelligenz inne. Sie lässt einen jeden Moment wie neu erleben und erfüllt das Leben mit Magie. Finden Sie nicht?

Das mag stimmen. Aber ich glaube, dass mir diese Form von Intelligenz im Alltag abgeht.

Geben Sie mal die Hoffnung nicht auf! Beim Schreiben schöpfen Sie diesbezüglich ja aus dem Vollen. Sie besitzen ein unglaubliches Talent für Spannung. Sie haben mich mit Ihrer Trilogie bis am Ende in Atem gehalten. Mein Leben lag während der Lektüre auf Eis. Ich habe regelrecht aufgeatmet, als ich mit den insgesamt 1800 Seiten durch war!

Danke, das ist ein schönes Kompliment. Genau daran arbeite ich. Ich möchte eine Beziehung schaffen, aus der sich der Leser nicht mehr lösen kann.

Ist ein Tag, an dem Sie eine gute Kritik erhalten, ein guter Tag?

Sosehr sie mich auch freut – ein guter Tag ist einer, den ich mit meiner Frau und meinen beiden kleinen Jungs verbringe. Das ist es, was für mich im Leben zählt.

Die bislang fünf Romane von Joël Dicker wurden in über vierzig Sprachen übersetzt und mehr als zwölf Millionen Mal verkauft. Sein jüngster Roman «Die Affäre Alaska Sanders»

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