Herzlich willkommen in der märchenhaften Welt der Winzerchampagner. Die ist kompliziert, mitunter herrlich verschroben, aber unbedingt entdeckenswert. Bleiben wir bei Ulysse Collin, also beim jetzigen Gutsherrn Olivier Colin. Er ist einer von rund 2000 Individualisten, die ihre eigenen Reben kultivieren, um daraus ihren persönlichen Champagner keltern, abfüllen, ruhen lassen, degorgieren und verkaufen zu können. Er tut also genau das Gegenteil von dem, was die 390 Champagnerhäuser tun. Die grösseren fünf Player auf dem Spielfeld sind Moët & Chandon, Vranken Pommery, Nicolas Feuillatte, Laurent-Perrier oder Louis Roederer. Die machen auch alles richtig, aber mehrheitlich immer gleich richtig. Die Marke und der Stil des Hauses stehen im Vordergrund.
Bei den Winzerchampagnern stehen je nach Philosophie das Terroir, der Jahrgang, der Umgang mit der Rebe, ja mit dem Leben im Vordergrund. Winzerchampagner haben Charakter, und man erkennt sie auf dem Etikett. Klitzeklein steht beim Erzeugername das Kürzel RM oder RC. «Récoltant manipulant» steht für einen echten, klassischen Winzerchampagner. Nur wer ausschliesslich Champagner aus den eigenen Reben herstellt und vertreibt, darf dieses Kürzel verwenden. Ein RC, also «récoltant coopérateur», ist auch ein braver Mensch, er oder sie lässt die eigenen Trauben in einer Kooperative verarbeiten und kauft den eigenen Champagner quasi wieder zurück, um ihn dann selbst zu vertreiben. Gerade kleine Winzer und Einsteiger sind froh, wenn sie nicht die hohen Investitionen in die Kellertechnologie tragen müssen. Auch beim ausgebildeten Juristen Olivier Collin war 2003 nicht aller Anfang einfach. Er hatte eine grosse Vision, aber wenig Geld, und gerade das ist in der Champagne ein Problem: Boden- und Traubenpreise sind hoch, die Herstellung ist komplex, und der Herstellungsprozess dauert lange: Fünfzehn Monate muss ein Champagner gesetzlich in der Flasche, auf der Hefe, im Keller lagern, für Jahrgangschampagner sind es mindestens drei Jahre. Nichts also mit dem schnellem ROI.
Ehrgeizige Hersteller wie Olivier Collin lassen ihre Weine gern auch mal sechzig Monate und länger ruhen. In dieser Zeit entstehen unvergleichbare «vins de méditation», im Falle von Collin sind sie frisch, komplex und tief. Sein mineralisches Erstlingswerk Les Pierrières könnte man auch als Puligny-Montrachet «avec des bulles» bezeichnen. Burgundisch, klassisch, sublim in Holz ausgebaut, nicht filtriert, nicht geschönt. Pure Eleganz. Besser gehts nicht, zumindest nicht, bis man seinen Jardin d’Ulysse probiert hat. Dieser Garten, genannt «Le Clos», befindet sich direkt vor dem Weinkeller in Congy und ist mit den drei wichtigsten Rebsorten der Champagne bepflanzt: Chardonnay, Pinot Meunier und Pinot noir. 72 Monate auf der Hefe gereift, butterzart und dennoch dicht. Ausdauernd kraftvoll wie ein alter Quittenbaum, den man umarmen möchte, aber der Wein bleibt kaum fassbar und eine Klasse für sich. Oder doch nicht?
Vieles hat Collin während seiner anderthalb Jahre bei der Winzerlegende Anselme Selosse sicher mehr als einmal gehört. Weder Collin noch Selosse lassen sich gern einengen, auch mögen sich beide nicht vom Regelwerk der Biodynamie knechten lassen. Beide sind im Herzen «burgundisch», für beide ist das Holzfass die Verkörperung der Tradition, Reben und Terroir sind heilig. Beides sind Freigeister, aber das Terrain für solche Weintypen hat Anselme Selosse geebnet. 1974 hat er den Familienbetrieb übernommen, seit 2012 übernimmt sein Sohn Guillaume mehr und mehr Verantwortung. Die Weine von Collin und Selosse findet man nur in homöopathischen Dosen und exklusiv auf Anfrage.
Am Anfang hat niemand verstanden, was Anselme Selosse da auf den Markt zu bringen versuchte. «An den Weinausstellungen in Paris bin ich auf meinen Flaschen sitzen geblieben», erzählt Selosse, der in seinem Keller in Avize zwischen hellwachem Schalk und Schwermut hin- und herschwadroniert. Bis in die Neunzigerjahre des vergangenen Jahrtausends habe er einen vollen Keller gehabt, und auf die Frage, ob es für einen Winzer schlimmer sei, zu viel oder zu wenig Wein im Keller zu haben, antwortet er: «Neinsagen fällt mir schwer.» Vielleicht ist das der Grund, warum am Weingut seit über zehn Jahren keine Neukunden mehr aufgenommen werden. Anselme Selosse ist ein sensibler Mensch und Winzer, Worte wie «Wine-Maker» oder «Marketing» scheinen ihm physische Pein zu bereiten. Viel lieber läuft er mit der Taschenlampe durch seinen kleinen Keller, öffnet die Fässer und leuchtet hinein.